Archaische Wucht: Der zeitlose Stoff um den mittelalterlichen König Edward II bietet dem Schweizer Komponisten Andrea Lorenzo Scartazzini eine Vorlage für ein hochdramatisches Werk voller Zwischentöne.
Eine glutvolle Geschichte aus dem England des 14. Jahrhunderts um König Edward II, der zwanzig Jahre glücklos herrschte und ein Land im Chaos hinterließ, ist Gegenstand von Andrea Lorenzo Scartazzinis dritter Oper. Machtspiele, Affären und Intrigen um Edwards homosexuelle Beziehungen bieten einen theatralischen Stoff für ein Beziehungs- und Politikdrama. Dessen Protagonisten sind sein Günstling Gaveston, seine verschmähte Ehefrau Isabella und deren intriganter Liebhaber Mortimer sowie die Öffentlichkeit mit Volk, Parlament und Klerus; es endet mit der blutrünstigen Ermordung Edwards. Christopher Marlowe verfasste 1591/92 ein äußerst erfolgreiches Schauspiel, das die Geschichte auf den Eklat um Gaveston konzentrierte, Derek Jarman produzierte 1990 einen hoch stilisierten, bildmächtigen Kultfilm. Nach der erfolgreichen Zusammenarbeit von Scartazzini mit dem Librettisten Thomas Jonigk an Der Sandmann findet das Team mit Regisseur Christof Loy für die Produktion (Uraufführung: 19.2.2017) an der Deutschen Oper Berlin nun wieder zusammen. Marie Luise Maintz stellte dem Komponisten einige Frage zu der neuen Oper.
[t]akte: Nach „WUT“ greifst Du mit Edward II erneut nach einem historischen Stoff aus scheinbar fernen Zeiten, der jedoch auch heute noch mit seinen skandalösen Zügen zu schockieren vermag. Was reizt Dich als Musiker, als Komponist, an diesem Sujet?
Scartazzini: Es ist sehr viel Leben in dieser Geschichte. Die Charaktere der Figuren selbst, deren Beziehungen zueinander, deren ungestillte Bedürfnisse, aber auch die gesellschaftlichen Zwänge, denen sie ausgesetzt sind, schaffen ein weites Betätigungsfeld für einen Komponisten: Ich folge ihren Emotionen bis in die kleinsten Verästelungen, ich spüre ihnen nach.
Natürlich besteht allein schon durch die erneute Wahl eines mittelalterlichen Stoffes eine gewisse Affinität zu meiner ersten Oper WUT. Dort ging es vor allem um die eine große titelgebende Emotion. Die Hauptfigur Pedro arbeitet sich an ihren eigenen destruktiven Gefühlen ab und findet keine Erlösung. Bei Edward II ist der Verlauf weniger deterministisch, es gibt neben dem Protagonisten Edward weitere wichtige Handlungsträger, die musikalisch unterschiedlich geführt sind. Es gibt Nebenhandlungen, buffoneske Passagen und eine Überlagerung von Zeitebenen, die ich reizvoll finde. Bei aller archaischen Wucht des mittelalterlicheren Stoffes hat es in Jonigks Bearbeitung Platz für Zwischentöne. Und so erscheint auch die berühmte bestialische Ermordung Edwards – er wird in Anspielung auf seine Homosexualiät „von hinten“ mit einer glühenden Eisenstange gepfählt – zuletzt auf eine geheimnis- und friedvolle Weise transzendiert.
Geht es um historische Ferne, oder im Gegenteil: um Aktualität, oder um ein zeitloses Drama, quasi als Parabel?
Ich halte wenig von allzu offensichtlicher Aktualiät, Nachrichten von heute sind morgen meist schon Schnee von gestern. Historische Ferne scheint mir als Begriff interessanter, weil Distanz möglicherweise den Blick auf das Wesentliche schärft. Zeitlosigkeit ist sicher ein wichtiges Kriterium. Wenn ein Stoff nach Jahrhunderten noch aufgeführt und immer wieder neu bearbeitet wird, hat er seine Frische ganz offensichtlich bewahrt. Bei Edward II ist es insbesondere die schwule Liebe und vor allem das Selbstbewusstsein, mit der Edward seine Liebe zu Gaveston geradezu zelebriert. Ich denke, dass vor allem dieser Aspekt dem Drama im 20. Jahrhundert zu neuer Aufmerksamkeit verholfen hat. Und für mich persönlich war es der Hauptgrund, mich damit auseinandersetzen zu wollen.
Der Film von Derek Jarman wurde von Dir als erste Begegnung mit dem Stoff beschrieben. Hat er für die künstlerische Konzeption eine Rolle gespielt? Oder geht es um einen Gegenentwurf?
Der Film war wie eine Initialzündung, er hat mir Lust auf den Stoff gemacht. Wenn ich konkret an die Umsetzung durch Jarman denke, evoziere ich vor allem starke visuelle Eindrücke: hoch aufragende, schiefe ockergelbe Wände, abstrakte Räume, Nahaufnahmen von Gesichtern. Natürlich hat diese stilisierte, an ein Bühnenbild erinnernde Reduktion meine Auffassung bestärkt, dass sich das Drama für die Opernbühne eignet. Nun sind Film und Oper aber ja komplett unterschiedliche Medien. Deshalb hatte ich auch nie den Eindruck, mich in Bezug auf den Film „verhalten“ oder positionieren zu müssen. Das dramaturgische Konzept zur Oper stammt denn auch nicht von mir, sondern von Thomas Jonigk.
Thomas Jonigks Libretto vollzieht eine raffinierte Spiegelung in die Gegenwart und integriert eine besondere Kunstfigur. Wie verlief die Zusammenarbeit mit ihm?
Wir arbeiteten sehr autonom. Am Anfang stand der gegenseitige Austausch über den Stoff. Nach ein paar Monaten legte mir Jonigk das vollständige Libretto vor, welches wir gemeinsam Szene für Szene besprachen. Danach begann ich die Komposition auszuarbeiten. Aus musikalischen Gründen waren hin und wieder kleinere Anpassungen vor allem sprachlicher Art nötig. Aber ganz grundsätzlich lassen wir uns gegenseitig großen Raum. Ich folge seiner Dramaturgie, und er vertraut mir im Musikalischen.
Wie ist Deine musikalische Konzeption, wie sind die Rollen und Gesangspartien angelegt, welche Rolle spielt das Orchester? Evoziert dieser alte Stoff einen besonderen Tonfall?
Es ist große Oper für eine große Bühne, es gibt zehn Solistenrollen, Chormassen, elektronische Einspielungen und im Orchester einen beträchtlichen Perkussionsapparat. Vor allem in den Massenszenen, aber auch in den zwei Alpträumen Edwards herrscht ein brutales, musikalisch schroffes Klima. Vielleicht ist das tatsächlich ein Echo auf die archaische Szenerie, die sich mir durch Jarmans Film eingeprägt hat. Aber die Musik bleibt nicht nur so. Es gibt auch die Brüchigkeit im Leisen, verfremdete Angstklänge, Verschattetes und Geheimnisvolles. Die elisabethanischen Buffoszenen wiederum sind gekennzeichnet durch eine behäbige, ironisch überzeichnete „Dumpfbacken-Musik“. Und dann ist da auch die erotisch aufgeladene Musik des Begehrens; unerfüllt und ungestillt bei Isabella, zart und bedroht bei Edward und Gaveston. Von den zehn Rollen ist Isabella die einzige Frauenfigur und erhält dadurch im Vokalen besonderes Gewicht.
Die Musik folgt also nicht einer übergeordneten Konzeption, sondern sie lässt sich auf die emotionalen Situationen ein. Gewisse Szenen sind in sich abgeschlossene musikalische Sätze, andere sind voller Verweise auf Zurückliegendes oder noch Kommendes. Die Musik hat ihre eigene Form, ihre eigenen Zyklen, und natürlich soll sie auch innere Vorgänge ausdrücken, die sprachlich nicht zu verorten sind.
Im musikalischen Drama spielt das Timing, die Straffung, das Spiel von Spannung eine besondere Rolle – wie gehst Du damit um?
Alle meine drei Opern sind kurz. Edward II wird etwa 90 Minuten dauern. Ich neige aus Überzeugung eher zur Straffung, zu scharfen Konturen und Schnitten. Aber das ist bloß eine allgemeine Formulierung; Timing und das Spiel mit Spannung sind sehr stark von den konkreten Situationen in der Oper abhängig und müssen dem Aufbau und der Logik der Szene gehorchen. Auf den wuchtigen Schluss der fünften Szene folgt beispielsweise ein intimes, beklemmendes Rezitativ mit zerbrechlichen Glasharfenklängen in der sechsten. Abwechslung hält wach. Und nicht zuletzt hängt mein Interesse an einer Handlungsoper auch mit diesem Bedürfnis nach Spannung und Identifikation zusammen. Eine gute Geschichte ist immer auch gute, spannungsvolle Unterhaltung.
(aus [t]akte 2/2016)