Mit seinem Konzept standardisierter Handlungen schrieb der venezianische Opernkomponist Pietro Cavalli Geschichte. Die neue kritische Cavalli-Edition bei Bärenreiter startet mit Ercole amante.
Pietro Francesco Cavalli (1602–1676), der sich in der Kapelle von San Marco in Venedig vom Chorknaben (1616) bis zum „Maestro di cappella”( 1668) hochdiente, war der bekannteste Opernkomponist in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Während seiner Opernkarriere, die sich über die Jahre 1639–1673 erstreckte, schuf er nicht nur annähernd 30 Werke für venezianische Theater, sondern auch etliche Werke für andere wichtige Zentren in Europa wie Mailand, Florenz und Paris. Viele der Opern, die ursprünglich für Venedig geschrieben worden waren, verbreiteten sich zudem weit über die italienische Halbinsel und darüber hinaus. Obwohl er unzweifelhaft von seiner Verbindung zu Monteverdi profitierte, war Cavallis spezieller Platz in der Operngeschichte ein Ergebnis eigener Begabung.
Kurz nach dem Karneval 1637 gründete Cavalli zusammen mit einigen Kollegen (einem Librettisten, einem Sänger und einem Choreographen) eine Produktionsgesellschaft. Die Gruppe übernahm das Teatro San Cassiano, wo sie 1639 Cavallis erste Oper, Le nozze di Teti e di Peleo, produzierten. Er brachte noch acht weitere Opern in San Cassiano zur Aufführung, bevor er sich zu anderen Theatern orientierte, in denen er seine jährlichen Produktionen bis in die späten 1660er-Jahre geradlinig weiterverfolgte.
Die Entwicklung der Opernkarriere Cavallis überschneidet sich mit einem Zeitraum bemerkenswerten Wachstums der venezianischen „Opernindustrie”. Das wird an der rasch anwachsenden Zahl von Theatern sichtbar – von einem (1637), zu zwei (1639), zu drei (1640) und schließlich zu vier Theatern (1641) – und dem gleichzeitigen Anstieg der jährlichen Produktion – von einer einzigen Oper 1637 bis zum Höchststand von sieben Opern 1642, zwei davon aus der Feder Cavallis. In den frühen 1640er-Jahren wurde die Oper zu einer der Hauptattraktionen des berühmten venezianischen Karnevals.
In den 1640er-Jahren verstand es das Team Cavalli-Faustini einzigartig, in regelmäßiger Folge Opern herauszubringen. Um die schnelle Produktion neuer Werke zu erleichtern, entstand eine Reihe musikalisch-dramatischer Konventionen, die ihren Platz innerhalb des Kontexts standardisierter Handlungen fanden. Viele dieser Konventionen haben sich bis zum heutigen Tag in der Oper gehalten.
Cavallis historische Bedeutung wird seit dem späten 19. Jahrhundert wieder gewürdigt. Aber seine Musik war nur denen zugänglich, die willens und in der Lage waren, sie selbst anhand der handschriftlichen Partituren zu transkribieren. Bis in die jüngere Vergangenheit basierten die meisten Aufführungen auf Editionen, die dem Geschmack eines Publikums entsprechen wollten, das nicht mit dem relativ kargen Opernstil des 17. Jahrhunderts vertraut war. Denn die originalen Partituren bestehen im Wesentlichen aus einer Singstimme und einer Basslinie, lediglich einigen Streicherstellen für Ritornelle und einem gelegentlichen Accompagnato einer Aria. Herausgeber fügten oft sowohl Streicher- als auch Holz- und Blechbläserpartien hinzu. Eine zweite Aufführungswelle folgte mit Partituren die, beeinflusst durch die sich entwickelnde „Alte-Musik-Bewegung”, um viele der Zusätze bereinigt worden waren. Der Notentext war aber nach wie vor unzuverlässig, und alle Aufführungen waren abhängig von den Vorlieben und dem Geschmack des jeweiligen Herausgebers.
In den vergangenen zehn Jahren wuchs das Interesse des Publikums erneut. Diese Opern werden nun als eine unerschlossene Quelle attraktiver neuer Erfahrungen für das zeitgenössische Opernpublikum betrachtet. Als Reaktion auf dieses Interesse und um den Opernhäusern heute zuverlässige Aufführungsmateriale zugänglich zu machen, entstand die Idee, eine Gesamtausgabe der Werke Cavallis herauszugeben. Unter der Federführung des Bärenreiter-Verlages ist eine erste Serie, die 14 Opern umfassen wird, auf den Weg gebracht worden. Jede Oper wird nach einheitlichen Editionsrichtlinien von einem anderen Musikwissenschaftler herausgegeben.
Sobald mit Calisto und Ercole amante 2009 der Anfang gemacht ist, die beide von Alvaro Torrente herausgegeben werden, wird ein Werk pro Jahr erscheinen. Die Partituren, die höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, werden Aufführungen durch die Beseitigung von Unklarheiten in der Notation, durch Hinzufügung von gegebenenfalls notwendigen Instrumentalstimmen und durch die Vorlage des Textes erleichtern.
Ellen Rosand
Generalherausgeberin Cavalli Edition
(Übersetzung: Jutta Weis)
Ein Held in Liebe
Francesco Cavallis Ercole amante in der Neuedition von Álvaro Torrente
1659 wurde Francesco Cavalli dazu aufgefordert, eine Oper anlässlich der Hochzeit Ludwig XIV. mit der Infantin Maria Theresa, Tochter des spanischen Königs Philipp IV. zu komponieren, die nach jahrzehntelangen Kämpfen ein Friedensabkommen zwischen Frankreich und Spanien besiegelte. Der kluge Kopf hinter dieser diplomatischen Übereinkunft war Kardinal Jules Mazarin, der sich entschloss, das Abkommen und die Hochzeit als das aufwendigste Spektakel zu begehen, das jemals in Europa zu sehen war. Da das Ereignis nach Glanz und Pracht verlangte, beauftragte Mazarin den italienischen Architekten Vigarani damit, das außergewöhnlichste Theater Europas zu bauen: die „Salle des Machines” im Palast der Tuilerien, die 7.000 Zuschauer aufnehmen konnte. Unverwechselbare Besonderheiten des Theaters waren die Maschinen, die fantastische optische Effekte ermöglichten. Ein großer Nachteil war freilich die katastrophale Akustik.
Das Opernlibretto von Abate Francesco Buti basiert auf einer Kombination von Sophokles’ Trachinerinnen und Ovids Metamorphosen. Deutlich abweichend vom herkömmlichen venezianischen Libretto ist es in fünf statt in drei Akte aufgeteilt, komische Szenen für einfache Charaktere wurden reduziert und umfangreiche kommentierende Chorszenen hinzugefügt.
Herkules’ (Ercoles) leidenschaftliche Liebe zu der jungen Iole, Braut seines Sohnes Hyllo, bringt ihn dazu, seine Frau Deianira zu verstoßen und seinen eigenen Sohn ins Gefängnis zu bringen. Iole ruft den Geist ihres Vaters Eurytos an, der von Herkules getötet worden war und der alle Opfer des Helden auffordert, dessen Tod zu fordern. Um die Liebe ihres Ehemannes zurückzuerlangen, schickt Deianira ihm ein vom Blut des Zentauren Nessos durchtränktes, magisches Gewand, das, wie er versprochen hat, Ercole vor Untreue bewahren soll. Nicht wissend, dass das Gewand vergiftet ist, gibt Iole es Ercole während ihrer Hochzeit. Als er es anzieht, verbrennt sein Körper. Während Hyllo, der für tot gehalten wird, wieder auftaucht, erscheint Juno vom Himmel, um zu verkünden, dass Jupiter Ercole gerettet und ihn mit Bellezza vermählt hat. Die Oper endet mit dem französischen Ercole und der spanischen Bellezza, die im Himmel bejubelt und von Sternen und Planeten umkreist werden. Die Oper vermittelt Ludwig, Maria Theresa und ihrem Hof die moralische Botschaft über die Gefahren von Treulosigkeit und Eifersucht.
Cavalli unternahm größte Anstrengungen, um den wichtigsten Auftrag seines Lebens zu erfüllen. Er bediente sich einer ungewöhnlich großen Zahl von Quellen. Das Orchester nimmt eine führende Rolle ein, sowohl in den sinfonischen Instrumentalteilen als auch bei der Begleitung von Arien, Chören und Rezitativen. Das Werk ist vermutlich nicht nur von den Streicherensembles des französischen Hofs – Les vingt-quatre violons und Les petits violons –, sondern wahrscheinlich auch von Bläsern im Dienste des Sonnenkönigs aufgeführt worden. Große Chöre mit sieben oder acht Teilen kommen im Prolog und der Schlussszene zum Einsatz, während kleinere Ensembles mit kontrastierenden Klangfarben die Handlung betonen und damit eine bedeutende dramaturgische Funktion übernehmen: der Schlummerchor „Dormi, o Sonno dormi”, die Anrufung der Unterwelt „Gradisci o Re”, die Verdammung der Geister „Pera, mora il crudel” oder die religiöse Anrufung von Juno „Pronuba e casta dea”. Die Oper weist zudem Merkmale auf, die zu Standards der europäischen Oper wurden: das liebliche Duett der jungen Liebenden Iole und Hyllo etwa in „Amor, ardor piu raro” – mit dem komischen Widerpart von Licco und dem Pagen „Amor chi a senno in se” – oder das Lamento der verlassenen Deianira „Ahí ch’amarezza”.
Ungeachtet aller Bemühungen war der Oper kein Erfolg beschieden, was im Wesentlichen der schlechten Akustik des Theaters zuzuschreiben ist. Nur die Probenarbeiten in Mazarins Palast boten die Möglichkeit, die Musik zu genießen, was Cavalli nicht befriedigte. So kehrte er kurze Zeit später mit dem festen Vorhaben nach Venedig zurück, nie wieder eine Oper zu komponieren. Glücklicherweise hat er sein Wort gebrochen.
Álvaro Torrente
(Übersetzung: Jutta Weis)
aus: takte 2/2008