Fantastische Stoffe und eine überbordend fantasievolle Musik: Das zeichnet Joseph Haydns Opern aus. Anregungen für Spielplanerweiterungen, nicht erst im Haydn-Jahr 2032.
„Wenn ich eine gute Opera sehen will, gehe ich nach Eszterház“ soll Kaiserin Maria Theresia einmal geäußert haben. Tatsächlich glänzte der Opernbetrieb von Fürst Nikolaus Esterházy, „dem Prachtliebenden“, mit hervorragender musikalischer Qualität, farbenprächtigen Kostümen, charakteristischen Bühnenbildern und opulenter Ausstattung. Die neuesten Opernhits kamen hier zur Aufführung, und H. C. Robbins Landon vermutete gar, dass „Haydn unter allen großen Komponisten, wenn man von Händel und Verdi absieht, vermutlich die meiste Erfahrung im praktischen Opernbetrieb besaß“. Zu besonderen Anlässen wie Staatsbesuchen, dynastischen Feierlichkeiten oder Namenstagen griff Hofkapellmeister Joseph Haydn selbst zur Feder und komponierte neue Werke. Haydns – nach wie vor viel zu wenig bekanntes – Opernschaffen weist über zwanzig Werke in ganz unterschiedlichen Gattungen auf: von italienischen Komödien über das Intermezzo bis zur Azione teatrale, aber auch Marionettenopern und Singspiele in deutscher Sprache. Trotz dieses bereits umfangreichen musiktheatralen Œuvres äußerte Haydn rückblickend seinem Biographen Georg August Griesinger gegenüber, er hätte „anstatt der vielen Quartetten, Sonaten und Symphonieen, mehr Musik für den Gesang schreiben sollen“. Damit meinte er in erster Linie die Oper, die zentrale Gattung des 18. Jahrhunderts.
Nicht nur deshalb lohnt es sich, Haydns Opern immer wieder neu zu entdecken: „Il mondo della luna“ präsentierte den Hochzeitsgästen von Graf Nikolaus Esterházy mit ungemeiner Phantasie und Spielfreude die Illusion einer farbenprächtigen „Mondwelt“. Hier zeigt sich die menschliche Sehnsucht nach der Entdeckung und Erforschung unbekannter Räume und nach der Überwindung „natürlicher“ Grenzen. Dass die „Mondwelt“ von dem Diener Cecco als „Mondkaiser“ regiert wird, kann als sozialkritische Stellungnahme im Spätabsolutismus verstanden werden. Gleichzeitig werden wir Zeugen eines kunstvollen Intrigenspiels des vermeintlichen Astrologen Eclittico zu Lasten des gutgläubigen Buonafede, mit dem sich Eclittico die Hand seiner geliebten Clarice erschleicht.
Musikalisch bemerkenswert wird die „Reise“ Buonafedes zum Mond gestaltet: „Vado, vado, volo, volo.“ Der zur Mondwelt umgestaltete Garten Eclitticos wird von Buonafede in „Che mondo amabile“ staunend beschrieben und von acht Blasinstrumenten farbenreich musikalisiert. Von der Instrumentalbegleitung imitierte Naturlaute tragen zusätzlich zum Changieren zwischen Bühnenrealität und Bühnenimagination bei. Last but not least zeigt sich Buonafede von der Sprache der Mondbewohner fasziniert, die er (und nicht nur er) zwar nicht versteht, die aber in ihrer charakteristischen Lautlichkeit („Luna, lena, lino, lana“) besonders reizvoll klingt.
Das Dramma eroicomico „Orlando paladino“ entführt uns in eine unwirkliche mittelalterliche Welt, in der die Zauberin Alcina die Fäden spinnt. Ein Paradestück für einen Bassbuffo ist die Rolle von Orlandos Knappen Pasquale. Mit „Ho viaggiato in Francia, in Spagna“ reihte sich Haydn in die Tradition der Registerarien ein: Pasquale versucht, die Schäferin Eurilla mit verschiedenen Heldentaten zu beeindrucken. In „Ecco spiano“ mit einem Tonumfang vom H bis zum e‘‘ imitiert der Sänger sowohl das Spiel einer Violine als auch den von den Zeitgenossen oft karikaturistisch überzeichneten Kastratengesang. Das „tralarala“ in der Cavatina „La mia bella m’ha detto di no“ könnte ein Hinweis darauf sein, dass sich der Sänger zu seinem Gesang tanzend bewegen soll. In der mit Pauken und Trompeten besetzten Cavatina „Vittoria, vittoria!“ wird auch noch eine Schlachtenmusik parodiert.
Die Zauberin Alcina verwandelt nicht nur zwischenzeitlich den Titelhelden in einen Stein, sondern sie kann mit ihren übernatürlichen Kräften auch Räume und Zeiten überwinden. So finden sich die Beteiligten im dritten Akt in einer griechisch-mythologischen Szenerie wieder: Mit Hilfe des Fährmanns Caronte, der die Menschen über den Fluss Lethe ins Reich der Schatten bringt, sorgt sie dafür, dass Roland seine vorherigen Liebesqualen vergisst, so dass sich alle Verwicklungen auflösen.
Zu Haydns Lebzeiten wurde „Orlando paladino“ unter anderem in Pressburg, Prag, Brünn, Budapest, Dresden, Mannheim, Frankfurt, Hannover, Berlin und Sankt Petersburg aufgeführt, häufig in deutscher Übersetzung. Damit wurde das Werk zur erfolgreichsten Oper des Komponisten.
Die meistgespielte Oper am Esterházy-Hof, wo ab 1783 auch verstärkt Opere serie aufgeführt wurden, war mit 54 Aufführungen Haydns Dramma eroico „Armida“, womit die Spielzeit 1784 eröffnet wurde. Die Zauberin Armida liebt den Kreuzfahrer Rinaldo, der sich mit seinem Heer auf dem Weg nach Jerusalem befindet, und versucht, ihn auf jede erdenkliche Weise an sich zu binden. Ihre Wut schleudert sie Rinaldo in der gehetzten Rachearie „Odio, furor, dispetto“ entgegen. Im dritten Akt lockt Armida Rinaldo schließlich in einen märchenhaften Zauberwald, in dessen Zentrum eine Myrthe steht, die ihre Macht symbolisiert. Den Wald bevölkern übernatürliche Wesen: In einer großen durchkomponierten Szene versuchen zunächst Nymphen, den Kreuzritter zu umgarnen. Man hört ein Bächlein und zwitschernde Vögel. Dann wandelt sich die Natur in eine bedrohliche, lebensfeindliche Umgebung, und Rinaldo wird von furchteinflößenden Furien bedroht.
Haydn nutzt in „Armida“ ein Mittel, das wir aus Mozarts „Così fan tutte“ oder „Don Giovanni“ kennen: Er verknüpft die Ouvertüre mit der folgenden Handlung – genauer mit der Zauberwaldszene – und schlägt so eine musikalische Klammer um die Oper. Der männliche Protagonist Rinaldo, der sich am Ende doch als standhaft erweist, wird in seiner großen Arie „Vado a pugnar contento“ sowohl als starker Kämpfer als auch als schmeichelnder Liebhaber gezeichnet. Hier ist Haydns Musik als unmittelbarer Gefühlsausdruck des zwischen Pflicht und Neigung schwankenden Ritters und gleichzeitig als Ausdruck der äußeren Welt zu verstehen. Zur Kriegsthematik gehört nicht zuletzt ein Bläsermarsch, der die Bewegung auf der Bühne koordiniert.
Mit „Armida“ verabschiedete sich Haydn von der Opernbühne des Esterházy-Hofes. Durch den Tod von Fürst Nikolaus erhielt er die Möglichkeit, nach London zu reisen und das reiche Musikleben der „Musikhauptstadt Europas“ kennenzulernen. Mit dem Dramma per musica „L’anima del filosofo ossia Orfeo ed Euridice“, das er während seines ersten London-Aufenthalts für das King’s Theater komponierte, sollte er selbst dazu beitragen. Schon während der Vorbereitung kündigte Haydn seinem neuen Dienstherrn Fürst Anton an, dass „die Opera sehr mit Chören, und Ballets und vielen grossen Veränderungen [der Bühnenbilder] verflochten“ sei.
Der Orpheus-Stoff, in dem sich eine anrührende Liebesgeschichte mit der Demonstration der Macht der Musik verbindet, kann als der Opernstoff schlechthin gelten. Das Libretto ist, wie Haydn selbst bemerkte, allerdings „von einer ganz andern arth seyn, als jenes v.[on] Gluck“. Haydn unterstrich das antik-mythologische Sujet durch den vermehrten Einsatz von Chören sowie im Accompagnato des Orfeo „Rendete a questo seno“ durch den Einsatz einer Harfe. Auch Klarinetten, die nicht zur regulären Besetzung in Eszterháza gehörten, setzte Haydn in „L’anima del filosofo“ ein. Die Chöre der Furien und Bacchantinnen werden mit Posaunen untermalt. Besonders berührend ist musikalisch verklingend der Tod Euridices gestaltet. Kontrastierend dazu kann die Sängerin des Genio in ihrer Arie ihre besondere Virtuosität zeigen.
Doch das Theater konnte nicht eröffnet werden, und so kam es auch nicht zu einer Aufführung. Ob Haydn die Oper bereits fertiggestellt hatte, ist umstritten. Während er in seinen Briefen über eine fünfaktige Konzeption berichtete, besteht „L’anima del filosofo“ in seiner überlieferten Form aus nur vier Akten; es könnte sich also um ein Fragment handeln. Auch die Bedeutung des Titels liegt letztlich im Dunkeln. Es bleiben also Fragen offen. Doch für eine Produktion könnte diese Offenheit gerade von besonderem Reiz sein.
Christine Siegert
(aus [t]akte 1/2025)