In seiner dritten Oper fasst Bruno Mantovani mit einem hochentwickelten Gespür für Dramatik und hypnotische Intensität ein heißes Eisen an: die Kollaboration französischer Intellektueller mit den Nationalsozialisten.
Als Enkel spanischer Großeltern, die vor dem Franco-Regime flüchteten, entwickelte Mantovani sein künstlerisches Empfindungsvermögen im starken politischen Bewusstsein des zerstörerischen Potenzials, das dem Totalitarismus eignet. In allen seinen Opern geht es um das Verhältnis des Künstlers zur Diktatur: „L’Autre côté“ (2006) nach Alfred Kubin handelt vom Dasein eines Malers in einem „Traumreich“, dessen vom Autokraten versprochene Utopie sich als albtraumhafter Betrug herausstellt; in „Akhmatova“ von 2011 wird die finsterste Zeit im Leben der berühmten Dichterin geschildert, deren Sohn vom Stalin-Regime in Haft genommen wurde. Mit „Voyage d’automne“ (einem Auftragswerk der Opéra national du Capitole de Toulouse) setzt sich der Komponist nun mit einem nationalen Trauma auseinander: mit der aktiven Duldung der Nazi-Besatzung durch französische Schriftsteller während des Zweiten Weltkriegs.
Mantovani ließ sich zu Thema und Titel von einem Werk des Historikers François Dufay inspirieren, das ihn seit gut fünfzehn Jahren beschäftigt und in Beschlag nimmt: Im Herbst 1941 lud Goebbels verschiedene europäische Delegationen zum „Dichtertreffen“ nach Weimar ein, wo sie ehrenvoll empfangen wurden. Darunter befanden sich die damals prominentesten französischen Autoren. Sie waren den Lockrufen der Propaganda erlegen, die ihnen in Aussicht stellte, im Zuge der Neuordnung der europäischen Schriftstellerzunft unter der Ägide Nazideutschlands zu Ruhm zu gelangen. Der frankophile Gerhard Heller, innerhalb der Propagandastaffel der Beauftragte für die Politik, die das Verlagswesen des besetzten Frankreich betraf, nahm sie unter seine Fittiche: Marcel Jouhandeau, Jacques Chardonne, Ramon Fernandez, Pierre Drieu la Rochelle und Robert Brasillach, das zentrale Quintett eines Intrigenspiels, in dem sich die erotische Anziehungskraft Jouhandeaus, eines offenkundigen Homosexuellen, auf den attraktiven Heller sowie den Dichtersoldaten Hans Baumann mit den traurigen Affekten ihrer Kollegen verwob, mit Hochmut und Eitelkeit, Nihilismus und Selbsthass, Antisemitismus und Faschismus.
Losgelöst von den rein historischen Gegebenheiten, schafft das Libretto des Schriftstellers, Germanisten und Philosophen Dorian Astor eine tragikomische Welt, in der dieser Kuhhandel die phantasmagorischen Dimensionen eines großen, irrealen und eisig wirkenden Spektakels annimmt. Der Text speist sich aus den Schriften jener Mistkerle, und die poetische, mit spitzer Feder geschriebene Sprache ist von einer millimetergenauen Prosodie und einer vokalen Linie geprägt, deren lyrische Aufschwünge unter dem Druck einer bleiernen Atmosphäre in Fragmente zerbrechen. Auch die deutsche Dichtung übt ihre Anziehungskraft auf das Libretto aus: Angesichts der Verbannung lassen erhabene Chorklänge das apokalyptische Gedicht „Der Widerchrist“ von Stefan George hören; mit Blick auf die Erlösung wird eine erschütternde Elegie von Gertrud Kolmar, die in Auschwitz ums Leben kam, der allegorischen Figur „Die Sinnende“ anvertraut, ein schwacher messianischer Hoffnungsschimmer inmitten der Finsternis. Zwischen diesen Einsätzen entwickelt sich allmählich ein grandioses Lied für Sopran und Orchester – zweifellos einer der musikalischen Höhepunkte der Oper.
Gerade im kreativen Umgang mit dem Orchestersatz zeigt sich Mantovanis ganzer Einfallsreichtum. Hinsichtlich des Umfangs mit dem von Mozart vergleichbar – wobei zusätzlich ein Klavier und ein Akkordeon zum Einsatz kommen –, fällt dem Orchester in „Voyage d’automne“ die Hauptrolle zu: Es vermittelt die lyrischen Momente, ist Träger von Sinn und Farbe und hat dabei seine eigene Autonomie. Ausgehend von der Tonsprache der musikalischen Zwischenspiele, vermochte der Komponist in die poetische Welt des Librettos einzudringen und seine Oper als eine große, dramatische Symphonie zu konzipieren. Die Textur ist transparenter als in Akhmatova, sie wurde speziell für das renommierte Orchestre national du Capitole de Toulouse geschaffen, das Mantovani gut kennt, war er doch bei diesem Klangkörper lange Zeit als Dirigent und Komponist „in residence“. Voyage d’automne zeugt von der bemerkenswerten Reife eines Komponisten, der mit diesem Werk in der Geschichte der zeitgenössischen Oper zweifellos einen Meilenstein gesetzt hat.
Valérie Alric
(Übersetzung: Irene Weber-Froboese / aus [t]akte 2/2024)