Agrippina gehört zu den frühesten Opern Händels. In der Neuedition wird deutlich, wie sehr sich der Komponist aus Vorhandenem bediente … und wie gelungen das Ganze doch ist. Bei den Händel-Festspielen in Göttingen wird die Edition erstmals verwendet.
1706 reiste Georg Friedrich Händel zur weiteren Ausbildung seines Kompositionsstils nach Italien. Hier entstanden die beiden ersten italienischen Opern Rodrigo, aufgeführt im Herbst 1707 im Teatro di Via Cocomero in Florenz, und Agrippina, mit der im Teatro San Giovanni Grisostomo am 26. Dezember 1709 der venezianische Karneval eröffnet wurde. Mit Agrippina feierte er seinen ersten großen Erfolg und zeigte, dass er sich in Italien den modernen Opernstil schnell und gründlich angeeignet hatte. Sein Biograf John Mainwaring berichtete von 27 Aufführungen bis zum Februar 1710 und einer begeisterten Aufnahme durch das Publikum. Kardinal Vincenzo Grimani gilt als der Verfasser des Librettos, gesichert ist die Zuschreibung jedoch nicht. Der Auftrag an Händel für Agrippina jedoch muss von Giovanni Carlo oder seinem Bruder Vincenzo Grimani ausgegangen sein, denn das Theater, in dem das Werk aufgeführt wurde, stand unter ihrer Leitung und gehörte der Familie der Grimani.
Die Handlung der Oper spielt in Rom im Jahr 50 AD. Agrippinas Lebensziel ist es, ihren einzigen Sohn Nerone aus der ersten Ehe mit Gnaeus Domitius Ahenobarbus auf den römischen Thron zu bringen. Ihr zweiter Gatte, Claudio, hatte diesen jedoch bereits seinem Lebensretter Ottone versprochen. Beide Thronanwärter lieben Poppea. Nach allerlei Intrigen bekommen alle Protagonisten genau das, was sie am liebsten haben wollen: Nerone wird Kaiser, Poppea und Ottone heiraten. Giunione kommt mit ihrem Gefolge herab und beschließt die Oper mit einem lieto fine.
Ein großer Teil der Musik stammt aus Händels zuvor in Italien komponierten Werken. Teilweise ist sie erheblich überarbeitet, manches wurde jedoch auch mit nur geringen Änderungen übernommen. Allerdings war Händel ein Meister darin, die Musik perfekt dem neuen dramatischen Kontext anzupassen. In der Oper sind viele seiner glänzendsten musikalischen Ideen aus der Zeit von 1707 bis 1709 vereinigt. Nachdem er die Komposition abgeschlossen hatte, nahm er Änderungen vor, die meisten noch vor der Uraufführung. Besonders stark war die Partie der Poppea in den beiden ersten Akten betroffen, in der er die technischen Anforderungen zurücknahm, vielleicht nachdem er die Sängerin Diamante Maria Scarabelli in Antonio Lottis Oper gehört hatte, vielleicht war aber ursprünglich auch eine andere Besetzung geplant. Später jedoch tauschte er nach Beginn der Aufführungen die einfachere Arie Nr. 31, „Ingannata“ gegen das virtuose „Per punir“, Anh. I, Nr. 31a, aus. Eventuell wurde die Scarabelli kurzfristig durch eine andere Interpretin ersetzt. Ein Sängerwechsel ist in einer der venezianischen Partiturabschriften angegeben: Für die Partie der Agrippina wird Elena Croci Vivani, eine Sopranistin aus Bologna, anstelle von Margherita Durastanti genannt. Entweder handelt es sich hier um einen Irrtum und Elena Croci ersetzte die Scarabelli, oder es gab noch eine weitere Umbesetzung. Agrippina wurde bis Anfang Februar 1710 gespielt.
Die im Rahmen der Hallischen Händel-Ausgabe erschienene Edition von John E. Sawyer bietet die Fassung der Uraufführung, die verworfenen Fassungen und die während der Spielzeit vorgenommenen Änderungen. Das Autograph der Oper, geschrieben auf venezianischem Papier, ist fast vollständig erhalten. Es fehlen nur die Ouvertüre und das erste Blatt von Akt I. Eine Direktionspartitur ist nicht überliefert, doch es gibt drei Abschriften, die die meisten späteren Änderungen, die Händel an dem Werk vornahm, widerspiegeln. Das Libretto der Uraufführung enthält Hinweise auf vier Ballettsätze. In der Aktübersicht, die zwischen dem Argomento und dem Beginn des ersten Aktes steht, folgt nach „Atto Terzo“ die Angabe „BALLI / Di Tedeschi. / Di Giardinieri. / Di Cavalieri, e Dame“, und der Librettotext überliefert am Ende von Giuniones Arie die Anweisung „Segue il Ballo di Deità seguaci di Giunone“. Die Musik der Tänze ist nicht überliefert, man kann jedoch annehmen, dass Händel die Ballettmusik aus Rodrigo noch einmal verwendet hat. Deshalb bietet der Band am Schluss der Oper einen Herausgebervorschlag mit Musik aus Rodrigo (HHA II/2) an.
Annette Landgraf
(aus [t]akte 1/2015)