Das bei Bärenreiter · Alkor erhältliche Aufführungsmaterial zu Beethovens Fidelio ist eine Vorausedition, für die zwar die wichtigsten, aber noch nicht alle Quellen der Oper ausgewertet wurden. Für deren Übertragung in den Notentext gelten selbstverständlich die Standards der historisch-kritischen Edition. Doch sind für die spezielle Konstellation der Quellen und der Gattungs- und Werkeigenheiten des Fidelio noch nicht überall einheitliche Regelungen gefunden. Vor allem existiert bisher aber noch kein vollständiger Kritischer Bericht, der über die Quellen und im Einzelnen über die Herkunft bestimmter Lesarten und über die Herausgeberentscheidungen Auskunft gibt. Nach Beendigung dieser Arbeiten wird die Edition des Fidelio in Band IX, 4 der Ausgabe der Werke Beethovens erscheinen.
Beethovens Komposition hat eine ungewöhnlich lange und komplizierte Entstehungsgeschichte, die sich in der Überlieferung des Werkes spiegelt. Für eine wissenschaftliche Ausgabe des Fidelio wurden dadurch vielerlei Hürden aufgebaut. Zwischen 1804 und 1814 hat Beethoven mit mehreren, unterschiedlich langen Unterbrechungen insgesamt etwa drei Jahre an der Oper gearbeitet, von vielen Nummern zwei oder mehr Fassungen komponiert und immer wieder revidiert und korrigiert. Die Uraufführung fand am 20. November 1805 im Theater an der Wien statt. Sie war ein Misserfolg. Deshalb überarbeitete Beethoven die Oper und brachte sie Ende März 1806 erneut heraus. Inzwischen hatte er die beiden Finali gekürzt, viele kleine Korrekturen und Änderungen vorgenommen, aber nur drei Stücke ganz neu geschrieben: den Marsch, mit dem Pizarro auftritt, das Rezitativ „Gott, welch Dunkel hier“ zu Florestans Arie, und die Ouvertüre, die alsbald auch unabhängig von der Oper im Konzertsaal bekannt gewordene „dritte Leonoren-Ouvertüre". In dieser Version hatte Leonore oder Der Triumph der ehelichen Liebe (wie die Oper damals hieß) ihren ersten Erfolg. Wegen eines Zerwürfnisses mit dem Intendanten des Theaters zog Beethoven das Stück jedoch nach der zweiten Aufführung zurück.
Acht Jahre vergingen, bis sich wieder die Gelegenheit zu einer Aufführung bot. Für diese dritte Inszenierung im Jahr 1814 revidierte Beethoven die Komposition erneut und zwar wesentlich stärker. Zwei Ensemblenummern wurden ersatzlos gestrichen, die beiden Protagonisten-Arien von Leonore und Florestan einschneidend überarbeitet, und die beiden Finali weitgehend neu geschrieben. Schließlich entstand eine vierte Ouvertüre, die als „Fidelio-Ouvertüre" bekannte in E-Dur. Über den mühsamen Umarbeitungsprozess klagte Beethoven Anfang März 1814 in einem Brief an seinen (dritten!) Librettisten Friedrich Treitschke: „Die Partitur von der oper ist so schrecklich geschrieben, als ich je eine gesehn habe, ich muß Note für Note durchsehn, (sie ist wahrscheinlich gestohlen) kurzum ich versichre sie lieber T[reitschke], die oper erwirbt mir die Märtirerkrone …". Viele Stachel dieser Märtyrerkrone hat Beethoven an die Editoren seiner Oper weitergegeben, die nun nicht nur die (gar nicht so) „schrecklich geschriebenen" Vorlagen, sondern vor allem Beethovens schwer lesbare Korrekturen „Note für Note durchsehen" müssen.
Das Dickicht von Manuskripten und von Änderungen zu durchschauen und zu ordnen, war eine aufwendige Arbeit, die im Beethoven-Archiv vorgenommen wurde. Ihr Ergebnis war zunächst die Rekonstruktion der Leonore von 1806. Sie war 1814 die Grundlage für Beethovens letzte Revision und ist deshalb eine der Hauptquellen für den Notentext des Fidelio. Alle unverändert gebliebenen Abschnitte, Partien, Noten, dynamischen und agogischen Details müssen mit ihr übereinstimmen.
Für die Umarbeitung benutzte Beethoven überwiegend die Kopistenabschriften die 1806 von Leonore hergestellt worden waren. In sie trug er seine Änderungen ein. Bei einigen Nummern hat er zusätzlich auf ältere Versionen der Uraufführung zurückgegriffen – so etwa beim Terzett „Euch werde Lohn in bessern Welten" und beim Quartett „Er sterbe, doch er soll erst wissen". Die zweite Hauptquelle sind daher diese mit Korrekturen übersäten Abschriften. Sie sind gewissermaßen das Autograph des Fidelio. Überliefert sind sie nicht als zusammenhängende Partitur der Oper, sondern verstreut als Handschriften der einzelnen Nummern. Die meisten befinden sich heute in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin, einige auch im Beethoven-Haus in Bonn.
Echte Autographe, also von Beethoven selbst geschriebene Manuskripte zur endgültigen Fassung des Fidelio, hat es nur zu solchen Stücken gegeben, die 1814 neu komponiert wurden: zur Ouvertüre, zu Leonores Rezitativ „Abscheulicher, wo eilst du hin?" zur zweiten- Hälfte des I. Finale (ab Pizarros Auftritt), zu Florestans Rezitativ und Arie und zum ganzen II. Finale. Selbstverständlich gehören die Autographe ebenfalls zum primären Quellenbestand.
Ein spezifisches Problem liegt darin, dass Beethoven die Partitur der Oper nicht selbst zum Druck gegeben hat. Zu seiner Zeit war es üblich, dramatische Musik für jede Aufführung neu einzurichten, zu kürzen oder zu erweitern und die Gesangsstimmen den Fähigkeiten der Sänger anzupassen. Opernpartituren wurden deshalb noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein äußerst selten gedruckt. Obgleich Beethoven von solchen Rücksichten auf die Ausführbarkeit seiner Musik bekanntlich nicht viel hielt, ließ er Fidelio nur handschriftlich verbreiten und zwar in Abschriften, die er selbst anfertigen ließ, deren Notentext er jedoch nicht mehr kontrollierte. An der Stelle einer autorisierten Endredaktion, wie sie bei seinen Instrumentalwerken selbstverständlich war, so dass sie unsere Vorstellungen von einem definitiven Notentext geprägt hat, steht bei Fidelio also nur die handschriftliche Überlieferung, die in vielem undeutlicher, aber der Operntradition entsprechend auch offener für die Interpretation und die jeweiligen Aufführungsbedingungen ist.
Von den damals hergestellten Abschriften haben sich nur wenige erhalten. Eine von ihnen stammt aus dem Wiener Kärntnerthortheater. Offenbar ist sie bei der Uraufführung benutzt worden. Sie spielt deshalb für die Edition eine bevorzugte Rolle. Die anderen Abschriften von 1814 wurden vorerst nur bei gewichtigen Zweifeln zu Rate gezogen.
Im Unterschied zu den Symphonien, Streichquartetten, Klaviersonaten – man kann sagen: zu allen anderen berühmten Werken Beethovens – ist Fidelio seit der ersten wissenschaftlichen Edition, die vor 140 Jahren im Rahmen der alten Gesamtausgabe erschien, nicht mehr gründlich erforscht worden. Alle folgenden Ausgaben waren unveränderte oder nur geringfügig abweichende Nachdrucke dieser Gesamtausgabe. Eine gründliche Revision des Notentextes, die der veränderten Forschungssituation und den heutigen Ansprüchen an originale Werkgestalt gerecht wird, wurde nicht unternommen. So schleppte man die Fehler, aber vor allem auch die Beethoven-Deutung des 19. Jahrhunderts aus der Gesamtausgabe von 1864 bis heute weiter.
Die neue Fidelio-Partitur weicht daher von der bisher bekannten deutlich hörbar ab – zwar nicht dadurch, dass neue Arien oder Ensembles entdeckt wurden, wohl aber durch die Korrektur zahlloser Details der Artikulation, der Dynamik, des Klangs, der Orchesterbesetzung – und auch ganz konkret in Tönen. An vielen Stellen konnten die Lesarten der älteren Ausgaben korrigiert werden. Das gilt vor allem für diejenigen Nummern, bei denen die alte Gesamtausgabe auf Beethovens nur schwer zu dechiffrierende autographe Manuskripte als Hauptquelle zurückgegriffen hat. Beispielsweise konnten in der Ouvertüre eine Reihe falscher Noten der Holzbläser berichtigt und in beiden Finali komplett fehlende Taktgruppen ebenfalls der Holzbläser wieder eingefügt werden, die bisher in keiner Ausgabe enthalten waren. Ein für den Orchesterklang wichtiger Aspekt ist der Einsatz des Kontrafagotts. In der Leonore von 1806 verwendet Beethoven das Kontrafagott in acht Nummern. Alle bisherigen Ausgaben des Fidelio bringen das Instrument in drei Nummern. Tatsächlich hat Beethoven 1814 die besondere Klangfarbe des Kontrafagotts aber nur noch in einer einzigen Nummer eingesetzt: im „Grabe-Duett" von Rocco und Leonore im II. Akt.
Oft haben scheinbar geringfügige Fehler in den Ausführungsanweisungen das Verständnis erschwert. Beispielsweise steht in der Introduktion zum II. Akt in allen Quellen (von der Leonore bis zur Aufführungspartitur von 1814) über Takt 31 „Hier wird aufgezogen". Die Introduktion ist also als „Ouvertüre" vor geschlossenem Vorhang, als Einstimmung und Einführung in die Kerkerszene gemeint und nicht als Illustration zu einer bereits sichtbaren Szenerie. Erst in der alten Gesamtausgabe (und folglich in allen gedruckten Ausgaben) fehlt die Regieanweisung, so dass offen bleibt, worauf sich die Introduktion musikalisch bezieht.
Zu der Partitur ist im Bärenreiter-Verlag ein neu gesetzter Klavierauszug erschienen. Er gibt in den Singstimmen Hinweise auf die Ausführung der Appoggiaturen, der Kadenzvorhalte am jeweiligen Versende. Aussagekraft und melodischer Fluss erhalten durch die richtige, von Beethoven intendierte Ausführung der Appoggiaturen oftmals eine ganz andere Prägnanz. Die Fidelio-Aufführungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass bei Sängern und Dirigenten über diese grundlegenden Ausführungsregeln immer noch Unsicherheit besteht. Es schien deshalb sinnvoll, in den Klavierauszug entsprechende Anweisungen aufzunehmen.
Helga Lühning