Der französische Dirigent Marc Minkowski ist ein Verfechter des französischen Opernrepertoires aus dem 19. Jahrhundert. Im Gespräch erklärt er sich zu dieser Liebe und entwirft Perspektiven für eine Renaissance.
[t]akte: Über das barocke und das klassische Repertoire hinaus haben Sie immer ein besonderes Interesse für die französische Musik des 19. Jahrhunderts gezeigt, vor allem aber für die Oper. Warum wurde sie Ihrer Meinung nach – mit Ausnahme von einigen klassischen Repertoirestücken wie Carmen, Werther oder Faust – so lange vernachlässigt?
Minkowski: Dieses Problem wirft viele Fragen auf, für die es nicht eine erschöpfende Antwort geben kann. Einige Erklärungen ermöglichen es uns lediglich, den tiefgreifenden Geschmackswandel beim Opernpublikum um die Wende zum 20. Jahrhundert zu verstehen, der im Kontext einer Internationalisierung der Musik zu sehen ist. Ich bin der Meinung, dass dafür während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Erfolg von Verdis und Wagners Opern in Europa eine wesentliche Rolle gespielt hat. In einer Kunstform, in der sich Librettisten und Musiker bis dahin an gesellschaftliche Konventionen und wirtschaftliche Überlegungen der Theater anpassen mussten, haben diese beiden Komponisten ihre eigene Dramaturgie durchgesetzt, indem sie ihren Werken eine menschliche Komponente verliehen haben. An den Geist Glucks anknüpfend, haben sich diese beiden Künstler des Dramas bemächtigt und ihm Tonsprache und Opernpraxis unterworfen. Als ihre Hauptwerke in Paris aufgeführt wurden, haben sie die Idee des Musiktheaters für junge Komponisten völlig verändert und damit ein wachsendes Publikum berührt. Zurückblickend erschienen gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Werke Meyerbeers, die weiterhin auf den Programmen der Opernbühnen standen, mehr und mehr künstlich und unnatürlich. Da sich die Frage nach der Kunst auf dem Theater vor allem durch das Aufkommen der Regie am Beginn des 20. Jahrhunderts immer dringlicher stellte, wusste man nicht mehr, wie man diese Opern auf die Bühne bringen konnte. In dieser Übergangszeit begann sich mit dem Wandel der Darstellungsformen auch der Geschmack zu ändern. Die Oper hörte auf, einem sozialen Bedürfnis Rechnung zu tragen und entsprang nun dem Wollen des Künstlers. Dies alles bedeutete einen Bruch zwischen dem französischen Repertoire der Romantik (ausgenommen Faust 1859) und dem modernen Operntheater nach Verdi und Wagner, dem der Generation von Bizet und Massenet, die etwa dreißig Jahre später geboren wurden und von ihren Vorbildern gelernt hatten.
Was sind die Gründe für die jüngste Neuentdeckung dieses Repertoires?
Unsere Zeit ist durch eine tiefe Neugier gleichermaßen gegenüber der Vergangenheit wie der Zukunft gekennzeichnet. Das 20. Jahrhundert hat eine Leidenschaft für die barocke Kunst entwickelt. Das Interesse an alter Musik wurde aber nicht erst in den letzten Jahrzehnten geweckt: Wir sollten nicht vergessen, dass Persönlichkeiten wie Saint-Saëns, d’Indy, Romain Rolland und andere entschieden für die Musik früherer Zeiten eingetreten sind. Monographien, Denkmälerausgaben und szenische Wiederentdeckungen waren in Frankreich am Anfang des 20. Jahrhunderts hoch im Kurs. All dies galt als modernes Bewusstsein, als Wunsch, Teil einer generationsübergreifenden Entwicklung zu sein, als Suche nach Glaubwürdigkeit. Unser Interesse für die folgende Epoche, die der Romantik, ist jünger und galt zuerst der Bildenden Kunst: Der Umbau des Gare d’Orsay 1986 in ein Museum ist dafür bezeichnend. In unserer Zeit der Retrospektive ist das Publikum reif für die Wiederentdeckungen des musikalischen Repertoires aus der Zeit von Ingres, Courbet und den Impressionisten, eines Repertoires, das den großen Erfolg der Pariser Opernbühnen begründet hat, und von dem wir heute noch profitieren, verlieh es doch der Stadt, die zur Musikhauptstadt Europas in der Romantik wurde, eine große Strahlkraft.
Sie sind einer der Pioniere dieser Wiederentdeckung seit den 1980er-Jahren: Welche Opern haben Sie dirigiert und was sind Ihre Favoriten?
Ich kann keine Lieblingswerke nennen angesichts der großen Anzahl von Opern, die ich schon dirigiert habe, darunter so wunderbare und verschiedenartige Stücke wie La Dame blanche von Boïeldieu, Le Domino noir von Auber, Robert le diable von Meyerbeer, La Favorite von Donizetti, Le Belle Hélène, La Grand-Duchesse de Gerolstein, Orphée aux Enfers und Les Contes d’Hoffmann von Offenbach – nicht zu vergessen seine Rheinnixen, eine richtige französische romantische Oper, obwohl in Dresden uraufgeführt – Carmen von Bizet und schließlich Cendrillon und Manon von Massenet. Ich habe außerdem für Deutsche Grammophon ein Recital mit Magdalena Kožená aufgenommen, das unter anderem herrliche Opernarien von Gounod und Ambroise Thomas enthält.
Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Orchestermaterial dieser Werke gemacht?
Man stößt oft auf große Schwierigkeiten, auch wenn man Kritische Ausgaben verwenden kann. Die Orchesterstimmen enthalten zu wenige Korrekturen und sind oft eher vorläufiger Natur. Wenn man mit Originalstimmen aus Bibliotheken arbeiten muss, besteht die große Gefahr, in den Wochen und Monaten vor der Aufführung viel Zeit zu verlieren.
Wie schätzen Sie angesichts dieser Erfahrungen, die sicher mit denen vieler Kollegen übereinstimmen, den Wert unseres neuen verlegerischen Projekts L’Opéra français ein?
Dieses Projekt war ein Desiderat! Wir verfügen jetzt über wunderbare Ausgaben von Rossini, Wagner, Verdi oder Offenbach. Es ist an der Zeit, dass Ähnliches für die französische Oper der Romantik geschieht, wenn man sie aufführbar machen und dem Publikum wieder vorstellen will. Ich möchte darüber hinaus hervorheben, dass sich flankierend zu Ihrer verlegerischen Initiative eine Bewegung seitens der Institutionen zugunsten dieses Repertoires abzeichnet. 2005 wurden die Aufgaben der Opéra Comique durch die französische Regierung neu definiert, und seit 2007 werden solche vergessenen Werke in den Saisonprogrammen bevorzugt. In Venedig beherbergt der Palazzetto Bru-Zane ein Zentrum für französische romantische Musik, das von einer Schweizer Stiftung finanziert wird und seine Arbeit 2009 aufnimmt.
Das französische Opernrepertoire des 19. Jahrhunderts, das seinerzeit in die ganze Welt exportiert wurde, stößt heute auf Akzeptanzprobleme. Die Grand Opéra wird von vielen als hyperspektakulär und gleichzeitig als ziemlich oberflächlich eingeschätzt; die Opéra comique mit ihren gesprochenen Dialogen lässt sich mit den internationalen Sängerensembles von heute kaum noch adäquat besetzen und ist zudem schwer verständlich für ein Publikum, das der französischen Sprache meist nicht genügend mächtig ist, um die Feinheiten des Librettos zu verstehen und zu genießen.
Wie schätzen Sie die Zukunft der französischen Oper des 19. Jahrhunderts ein und die Chance, einige Stücke dieser Gattung mit Hilfe unseres verlegerischen Projekts für die Bühne zurückzugewinnen?
Wir werden das Opernpublikum von Wert und Charme dieser vernachlässigten Werken nur überzeugen können, wenn Ihre Bemühungen als Verleger und die Neugier der Programmverantwortlichen und Dirigenten mit gut ausgebildeten Interpreten zusammentreffen, deren Stimmen sowohl für den Belcanto als auch für den lyrischen Gesang ausgebildet sind. Dieses Repertoire ist nicht unsingbar, wenn die Interpreten Verständnis für diesen Stil entwickeln. Sind die Partituren erst einmal erhältlich, können die Sänger diese Werke leichter studieren und sich aneignen. Was die komische Oper betrifft – und Carmen, das weltweit am häufigsten aufgeführte französische Werk, gehört wohlgemerkt zu dieser Gattung – müssen die Sänger wieder lernen, auf der Bühne nicht nur zu singen, sondern auch zu sprechen. Dieser Registerwechsel ist sehr heikel, aber im 19. Jahrhundert war die Fähigkeit dazu unabdingbar. Es ist sehr bedauerlich, dass das Conservatoire national supérieur de Paris 1991 die Opéra-comique-Klassen geschlossen hat.
Dürfen wir erfahren, welche französischen Opern wir in Zukunft von Ihnen hören werden?
In der nächsten Zeit werde ich mit großem Enthusiasmus Mireille von Gounod, Don Quichotte von Massenet und Les Huguenots von Meyerbeer dirigieren.
Die Fragen stellte Ulrich Etscheit
Übersetzung aus dem Französischen: Geneviève Geffray / JM