Nach Il ritorno d’Ulisse in patria (2007) erscheint nun mit Claudio Monteverdis L’Orfeo die zweite der Opern des Italieners in der Edition Rinaldo Alessandrinis. Der Herausgeber führt in die Prinzipien seiner Ausgabe ein.
Das verlegerische Schicksal des Orfeo brachte es mit sich, dass entsprechend den zeitgenössischen Gepflogenheiten unterschiedliche Ausgaben des Werkes überliefert sind. Die erste stammt aus dem Jahr 1609 und wurde von Amadino in Venedig gedruckt. Sie entstand nach der Uraufführung, die in einem bis heute nicht identifizierten Saal des Palazzo Ducale in Mantua im Jahre 1607 stattfand. Die zweite Ausgabe aus dem Jahr 1615 wurde ebenfalls von Amadino gedruckt.
Die typographische Einrichtung beider Ausgaben ist absolut identisch, so dass es zunächst keine Unterschiede zu geben scheint. Eine gründliche Untersuchung offenbarte jedoch in der Ausgabe von 1615, dass die Druckfehler der ersten Edition akkurat beseitigt wurden. Die zweite Ausgabe ist also sehr hilfreich, vor allem für jene Stellen, die auf den ersten Blick trotz ihrer Extravaganz zur manchmal äußerst komplexen Stilistik des Werkes zu gehören scheinen. Es dürfte also nicht schwer fallen, diese wenigen Fälle auf eine flüssigere Version zurückzuführen.
L’Orfeo stellt ein faszinierendes Modell der Notation für Stimmen dar. Monteverdis Genauigkeit beim Ausschreiben der Verzierungen ist mit derjenigen vergleichbar, die an Bach so häufig kritisiert worden ist. Heute kennen wir aus zahlreichen Quellen ein hochinteressantes und anspruchsvolles Repertoire einer vokalen Verzierungskunst, die über Triller oder Tremoli verschiedener Art weit hinausgeht. Im Orfeo sind hochentwickelte Formen von Deklamation, von Akzenten und Klangkaskaden zu finden; außerdem wird ausgiebig von der Antizipation von Noten oder Silben Gebrauch gemacht.
Es handelt sich dabei um sehr raffinierte Abläufe, die im Allgemeinen dem guten Geschmack des Sängers überlassen wurden. Warum Monteverdi sie derart präzise ausnotiert hat, wissen wir nicht. Von den späteren venezianischen Opern wurde diese Präzision der Notation – außer in seltenen Fällen – nicht übernommen. Ich beziehe mich nicht nur auf die beiden Versionen der Arie „Possente spirto”, die allein genug Material liefern könnte, um ein enormes Repertoire an Verzierungen aufzulisten und deren Anwendungsmöglichkeiten darzustellen. Die Rolle des Orfeo ist vielmehr insgesamt durch einen großen Reichtum an Ornamenten charakterisiert. Insbesondere der lange Monolog zu Beginn des fünften Aktes umfasst Beispiele höchster Qualität und großer Eleganz der Verzierungen. Sie sollten die Aufführungspraxis dieser Oper nachhaltig prägen. Für ihre korrekte Ausführung ist es unbedingt notwendig, sich ihre rhythmische Gestaltung genau vorzustellen, die – insofern sie nicht regelmäßig ist – so doch zumindest in den Unterteilungen konsequent sein sollte. Viel Verwirrung ist in den vergangenen Jahren durch die stilistische Vereinheitlichung der drei Opern Monteverdis entstanden. Der Orfeo kann jedoch nicht auf dieselbe Weise behandelt und aufgeführt werden wie Poppea und Ulisse. Während die beiden letzten Opern vom Kontrast zwischen einem ausgereiften rezitativischen Stil und einer bereits expressiven und zusammenhängenden Arien-Form geprägt sind – mit allen daraus folgenden Möglichkeiten einer deutlichen Flexibilität des Tempos – so ist der Orfeo in einem einheitlichen Stil gehalten. Die Zahl der Arien ist äußerst reduziert, und Monteverdi wählt den Stil des „recitar cantando” nicht nur für die meisten Teile der Oper, sondern auch für die in expressiver und emotionaler Hinsicht wichtigsten Passagen. Die große Genauigkeit der Notation sowie das Voranschreiten des Basso continuo, der rhythmisch manchmal sehr elaboriert ist, legen jedoch für eine korrekte Aufführung nahe, die Minima-Noten, das pulsierende Herz der gesamten Oper, sehr regelmäßig zu dirigieren.
Wie bei der Ausgabe des Ulisse, so war es auch hier die Absicht, eine vollständige Notation der Continuo-Akkorde anzubieten, und so sind wir auf dieselbe Weise vorgegangen: Die Anmerkungen des Herausgebers finden sich in Klammern. Beide Ausgaben enthalten nur sehr wenige Informationen über die originale Bezifferung. Diese wenigen Angaben sind außerdem recht konfus und können sich auf unterschiedliche Akkorde beziehen. Die Continuo-Spieler sollten sich also autorisiert fühlen, individuelle Entscheidungen zu treffen. Für die empfindliche Periode des Übergangs zwischen modaler Harmonik und Tonalität ist es außerdem sehr kompliziert, eine eindimensionale Lösung vorzugeben, vor allem für die Bezifferung der Akkorde der vierten Stufe. Da Vorzeichen fehlen, bleibt immer ein Zweifel bestehen, ob ein Dur- oder ein Moll-Akkord zu bevorzugen ist. Die harmonische Analyse des zeitgenössischen Madrigalschaffens bildet keine große Hilfe, da dort beide Optionen in annähernd gleicher Anzahl auftreten. Wenn man die Linie der Stimme im Verhältnis zum Bass analysiert, ergibt sich sehr deutlich, dass die fehlende Bezifferung nicht notwendigerweise den Einsatz einfacher Akkorde rechtfertigt, sondern dass es angebracht sein kann, in den kadenzierenden Passagen zusammengesetzte Formeln und Akkorde hinzuzufügen.
Abschnitte, die im Original geschwärzt notiert waren, wurden in moderne Notation aufgelöst. Die aktuelle Musikwissenschaft hat für diese Fälle mehrere Lösungen vorgeschlagen. Selbstverständlich wird hier nur eine angewandt: diejenige, die aus musikalischer Sicht am überzeugendsten schien. Es ist einfach, aus dem kritischen Apparat auf die originale Notation zu schließen, so dass die Musiker sich auch für abweichende Proportionen entscheiden können. Die originalen Mensurzeichen wurden erhalten, die Notation ist in den Violin- und Bassschlüssel übertragen worden.
Die Stücke, die in Chiavette notiert waren, wurden entsprechend der Regel bereits eine Quinte tiefer angegeben. Im Anhang befinden sich eine alternative Version, die um eine Quarte tiefer transponiert ist, und die Originalversion.
Monteverdi hat eine große Fülle von Angaben zur Instrumentation hinterlassen. Diese werden vollständig und in der originalen Form aufgeführt. Ergänzende Angaben befinden sich in Klammern. Es sei lediglich daran erinnert, dass die Entscheidung für oder gegen den Einsatz einiger Instrumente den rhetorischen Regeln entsprechen sollte. Aus diesem Grund wurde vermieden, in den ersten beiden Akten die Verwendung von Cornetti und Posaunen vorzuschlagen, da diese Instrumente mit der Umgebung der Hölle im dritten und vierten Akt verbunden sind.
Rinaldo Alessandrini
(Übersetzung: Christine Anderson)
aus: takte 2/2008
Raffinierte Verzierungen. Monteverdis „L'Orfeo” im Urtext
L’ORFEO
FAVOLA IN MUSICA
DA CLAUDIO MONTEVERDI
RAPPRESENTATA IN MANTOVA
l’Anno 1607. & nouamente data in luce
AL SERENISSIMO SIGNOR
D. FRANCESCO GONZAGA
Prencipe di Mantoua, & di Monferrato, &cc.
In Venetia Appresso Ricciardo Amadino
MDCIX
PERSONAGGI
La Musica Prologo (soprano), Orfeo (tenore), Euridice (soprano), Choro di Ninfe, e Pastori, [Messaggera (soprano)], Speranza (soprano), Caronte (basso), Choro di Spiriti infernali, Proserpina (soprano), Plutone (basso), Apollo (tenore)
STROMENTI
Duoi Gravicembani, Duoi contrabbassi de Viola, Dieci Viole da brazzo, Un Arpa doppia, Duoi Violini piccoli alla Francese, Duoi [recte: tre] Chitaroni, Duoi Organi di legno, Tre bassi da gamba, Quattro [recte: cinque] Tromboni, Un regale, Duoi Cornetti, Un Flautino alla Vigesima seconda, Un Clarino con tre trombe sordine
Herausgeber: Rinaldo Alessandrini
Verlag: Bärenreiter. Partitur und Klavierauszug käuflich, Aufführungsmaterial leihweise
Abbildung: Jean Corot: Orpheus führt Eurydike aus der Unterwelt (1861)