Mit der Edition aus der Rameau-Gesamtausgabe ist nun eine verlässliche Grundlage für Aufführungen der bedeutenden Ballettoper „Les Indes galantes“ verfügbar.
Komplizierte Rekonstruktion
Jean-Philippe Rameaus Ballettoper Les Indes galantes, im 19. Jahrhundert vollständig in Vergessenheit geraten und im 20. in verschiedenen Bearbeitungen auf die Bühne gelangt, gilt heute wohl als das wichtigste der Bühnenwerke Rameaus. Es ist das erste seiner sechs Opéra-Ballets und durchlief als solches bereits zu Lebzeiten erhebliche Umarbeitungen. Die Rekonstruktion war entsprechend schwierig. Doch nun ist es so weit: Erstmals seit Rameaus Lebzeiten stellt die innerhalb der Opera omnia de Rameau erscheinende Neuausgabe der Indes galantes eine Fassung dieses Hauptwerks wieder her, die Rameau selbst, und zwar sowohl in der Anordnung der Akte (Entrées) als auch hinsichtlich ihres Inhalts, für gültig befand. Gewählt wurde die Fassung von 1736 in der Anordnung: Prolog (ohne die Episode des Amour), Le Turc généreux, Les Incas du Pérou, Les Fleurs und Les Sauvages, die im März 1736 ergänzt worden waren. So erscheint die Oper in ihrem Hauptteil in einer kohärenten Fassung, nach den Anpassungen der ersten Aufführungen. Einzige Ausnahme von dieser editorischen Wahl ist das Erdbeben (Tremblement de terre) in den Incas du Pérou, das im Notenhauptteil in seiner ursprünglichen Fassung von 1735 wiedergegeben wird. Diese schwere, bisher unveröffentlichte Fassung war schon während der ersten Proben verworfen worden, weil die Interpreten diese erfindungsreiche Musik für nicht spielbar hielten und Rameau sich gezwungen sah, sie in eine gewöhnlichere Musik zu überarbeiten. Mit der Einführung der ursprünglichen Fassung des „Tremblement de terre“ soll dem Genie Rameaus zu seinem Recht verholfen werden. Die Chronologie der vier Entrées von 1736 ist identisch mit der Reprise von 1743, nur dass dann Les Incas du Pérou mit Le Turc généreux vertauscht wurden.
Zur Anordnung
Die Übersicht über die Anordnungen der Akte (s. u.) zeigt, dass es eine stabile Konfiguration nie gegeben hat, sieht man davon ab, dass die Fleurs ab dem 28. August 1735 immer in ihrer überarbeiteten Fassung erschienen und dass die Incas du Pérou stets an zweiter oder dritter Stelle standen. Konstant sind auch Les Sauvages insofern, da sie seit ihrer Einführung die Oper immer abschlossen und, außer im Juli 1761, auf die Fleurs folgten. Diese vielen Eingriffe machen deutlich, dass das Ballett als Genre einen recht variablen Aufbau hat und dem Interpreten große Freiheiten lässt, und es fällt schwer, eine Zusammenstellung gegenüber einer anderen zu bevorzugen.
Alle weiteren vorherigen und nachfolgenden Fassungen gegenüber derjenigen von 1736 sind in dieser Ausgabe in zwanzig Anhängen wiedergegeben, jeweils auch im Klavierauszug und dem Orchestermaterial. Im Anhang sind auch die ursprüngliche Fassung des Prologs mit der Episode des Amour und die erste Fassung der Fleurs enthalten – die beide bereits fünf Tage nach der Uraufführung verworfen wurden – die vereinfachte Fassung des „Tremblement de terre“ von 1736 aus den Incas du Pérou sowie alle weiteren Änderungen von 1743, 1751 und 1761.
Die Fassungen
Um die sehr komplexe Entstehungsgeschichte der Indes galantes zu rekonstruieren, war es nötig, mehr als zwanzig Quellen (Noten und Libretti) zu untersuchen, darunter ganz besonders eine Partitur und zwei Stimmen, die bei den ersten Aufführungen und einigen der folgenden Reprisen verwendet worden waren und sich wunderbarerweise erhalten haben. Da die Partitur zahlreiche unvollendete Teile enthält, waren diese in modernen Editionen eher willkürlich rekonstruiert worden. Doch die fehlenden Partien fanden sich zum größten Teil unter den Überklebungen in den Stimmen. Mit Hilfe des Restaurationsdienstes der Bibliothèque nationale in Paris, der alle Überklebungen löste, war es möglich, die Musik wieder sichtbar zu machen. Das Studium der Farbeintragungen und der Papiersorten ermöglichte es dann, die Überklebungen jeweils einer Fassung des Werkes zuzuordnen und diejenigen, die tatsächlich gestrichen worden waren, von denen zu unterscheiden, die den Stand von vor 1735 wiedergeben.
Welche Erklärung mag es für diese Unterschiede zwischen Partitur und Einzelstimmen geben? Es ist wohl anzunehmen, dass das (heute verschollene) Autograph damals bei der Abschrift der Orchesterstimmen unterstützend diente und ebenso, um die Partitur für den Dirigenten zu erstellen. Man muss sich vorstellen, dass, nachdem Rameau und der Dirigent das Werk während der Proben überarbeitet hatten, der Kopist der Opéra, Brice Lallemand, abends fortfuhr, um das Manuskript Rameaus ins Reine zu schreiben und dabei die Änderungen, die tagsüber vorgenommen worden waren, größtenteils auszuführen. Diese Hypothese würde erklären, dass in der Abschrift Lallemands verworfene Partien entweder gestrichen oder (insbesondere im Prolog) überklebt wurden, dass einige Passagen, die als zu schwer befunden worden waren (im Sopran und Bass), nur teilweise notiert und vereinfacht wurden (wie das „Tremblement de terre“ der Incas du Pérou) und dass schließlich andere Teile (gerade in Les Fleurs) ganz fehlen. Die Eile war derart groß, dass Brice Lallemand in Les Fleurs nicht die Zeit fand, weder die Ziffern der ersten Fassung zu vervollständigen noch die zweite Fassung ins Reine zu schreiben, so dass Rameau sie selbst in die Dirigierpartitur schrieb.
Die Änderungen, die während der Wiederaufnahmen durchgeführt wurden, sind derart wesentlich und komplex, dass es nicht möglich ist, sie hier im Einzelnen zu beschreiben. Insgesamt entfernt sich diese Neuausgabe der Indes galantes beträchtlich von den bekannten Ausgaben, so sehr, dass sie sich auch von den Einspielungen dieses Ballet héroïque deutlich unterscheidet. Einerseits reagiert sie mit zwanzig Anhängen (und etwa 120 Partiturseiten) auf die Neugierigen, die die vielen Abweichungen studieren oder aufführen wollen. Vor allem aber liegt mit ihr nun erstmals die Basis für jene Interpreten vor, die eine von Rameau etablierte Fassung aufführen möchten, in all ihrer stilistischen und theatralen Kohärenz.
Sylvie Bouissou
(Übersetzung: Annette Thein)
(aus [t]akte 1/2016)