Samson et Dalila ist das einzige Bühnenwerk des Franzosen Camille Saint-Saëns, das sich einen Platz im Repertoire gesichert hat. Nun erscheint die erste historisch-kritische Ausgabe.
Camille Saint-Saëns komponierte Werke aller Gattungen. Dass er vor allem auch als Opernkomponist Erfolg haben wollte, davon zeugen insgesamt dreizehn Bühnenwerke. Dennoch behauptet sich heute nur Samson et Dalila auf den Bühnen der Welt. Offenbar war sich der Komponist der Ausnahmestellung dieses Bühnenwerks, die in der Konstellation seines biblisch-militärisch-erotischen Sujets ebenso zu suchen ist wie in einem musikalischen Tonfall, durchaus bewusst. Gleichzeitig lagen in diesen Besonderheiten auch die Gründe, die der Aufnahme der Oper in Frankreich lange Zeit wenig förderlich waren: Moniert wurden eine zu starke gattungsmäßige Annäherung an das Oratorium sowie seine wagnerianische Prägung. So kam es auch, dass die Uraufführung 1877 nach langen Jahren der Arbeit nicht in Frankreich erfolgte, sondern, lanciert durch seinen Freund und Förderer Franz Liszt, am Großherzoglichen Hoftheater in Weimar.
Doch das Ziel des ambitionierten Komponisten war es natürlich, seine Oper an der zentralen Spielstätte Frankreichs zu platzieren, der im Palais Garnier angesiedelten Pariser Opéra. Dies gelang Saint-Saëns jedoch erst nach zahlreichen Zwischenstationen, von denen die wichtigsten waren: die französische konzertante Erstaufführung in Brüssel 1878, die erste Produktion auf französischem Boden in Rouen 1890 sowie eine daran anknüpfende Produktion im Pariser Eden-Theater im gleichen Jahr. Und bevor sich die ersehnte Referenzaufführung im November 1892 endlich realisierte, blickte Samson et Dalila bereits auf eine recht erfolgreiche internationale Karriere zurück mit Aufführungen u. a. in Genf, Barcelona, Algier und Mailand.
An der musikalischen Gestalt änderte sich in dieser Zeit allerdings nicht viel, und von der Reinschrift bis zum Druck der Partitur in ihrer letzten Fassung nahm Saint-Saëns nur an wenigen Stellen Korrekturen vor: Zwischen der Weimarer Erstfassung und der ursprünglichen Fassung der als Hauptquelle fungierenden autographen Reinschrift gibt es eine Instrumentationsretusche der Bläser (Acte I, Scène 2, T. 215–229), die Einfügung einer 31-taktigen Überleitung im dritten Akt (zwischen erstem und zweitem Tableau), sowie eine zusätzliche Ballettnummer vor dem auch als „Bacchanale“ separat überlieferten „Danse“: der 57 Takte lange „Réveil des Prêtresses“. Eine kurze Anmerkung in der autographen Reinschrift verrät, sie seien für die Premiere an der Pariser Oper 1892 nachkomponiert worden. (Über alle unterschiedlichen Lesarten erteilt der Kritische Bericht der Neuedition aus der Reihe L’Opéra français Auskunft.) Eine mögliche Antwort auf die Frage, warum die eigens für Paris nachkomponierte Ballettnummer später wieder aufgegeben wurde, findet sich in der Dirigierpartitur, die lange Jahre in der Pariser Opéra verwendet wurde: Dort wurde die Ballettnummer verschiedentlich überarbeitet, um schließlich ohne den „Réveil des Prêtresses“ auszukommen und dann überdies eine Strichmöglichkeit des Bacchanale eingezeichnet – es war also vorgesehen, im dritten Akt gänzlich ohne Ballett auszukommen, sogar unter Streichung des wirkungsvollen, von Originalverleger Durand auch als Einzelnummer vertriebenen „Bacchanale“. Man darf wohl von mittlerweile geänderten Rezeptionsgewohnheiten ausgehen: Fast könnte man von einem verspäteten Sieg des Wagnerismus sprechen, wenn ausgerechnet die als typisches Merkmal der französischen Oper geltende große Ballettnummer bzw. -nummernfolge zum Opfer späterer Kürzungen wurde.
Die Neuedition ermöglicht es nicht allein, Samson et Dalila erstmals mit einem an den modernen Lesegewohnheiten orientierten Material zu musizieren und studieren, sondern auch in einer kritischen Ausgabe von Noten und Libretto (letztere besorgt durch Fabien Guilloux unter Miteinbeziehung der deutschen Uraufführungsfassung von Richard Pohl) neue Aufschlüsse über die Werkgeschichte zu erhalten.
Andreas Jacob
(aus: [t]akte 2 / 2015)