Menschliche Grundfragen stehen im Mittelpunkt von Salvatore Sciarrinos Opern La porta della legge und Super flumina. Die Vergeblichkeit des Lebens und die soziale Frage werden hier zu Klang.
Die Ausgangspunkte der beiden neuen Opern von Salvatore Sciarrino unterscheiden sich sehr stark voneinander: Es sind Der Prozess von Franz Kafka und die Heilige Schrift (Das Hohelied). Zwar sind beide Werke in der Wahl von Sujet und Dramaturgie gegensätzlich, beide rücken jedoch ein gleichermaßen aktuelles wie antikes Leiden in den Mittelpunkt ihrer Darstellung.
Vor dem Gesetz (La porta della legge) geht auf eine zunächst eigenständig entstandene Erzählung von Franz Kafka zurück. Sie wurde später in seinen Roman Der Prozess eingefügt und ist hier in zyklischer Form wiedergegeben. „Fast ein kreisförmiger Monolog” heißt es im Untertitel, und diese Kreisform bildet auch ein wesentliches Element der Oper. Wir erleben das nutzlose Warten eines Mannes vor der Tür des Gesetzes, ein Warten, das bis zu seinem Tode andauert. Die Szene wird dreimal wiederholt: Am Anfang wird der Mann von einem Bariton verkörpert, in der zweiten Szene von einem Countertenor, in der dritten Szene singen Bariton und Countertenor zusammen – bis ihr Leben abgebrochen wird.
Durch diesen dramaturgischen Mechanismus erhält die Wiederholung der Geschichte die entsetzliche Per-spektive einer universellen Erfahrung, die sofort für einen anderen Menschen von Neuem beginnt; und es ist gerade diese Wiederholung, die der Erzählung ihre Unabwendbarkeit gibt und ihr metaphysische Momente verleiht.
Die drei Szenen sind einander zwar ähnlich, aber keineswegs gleich: Sie unterscheiden sich durch klangliche Transformationen und kaum wahrnehmbare Gleitbewegungen, durch winzige Variationen und Umbrüche. Die zweite Szene scheint sich an einem anderen Schauplatz als die erste abzuspielen, an einem hellen, leuchtenden Ort; der Raum beginnt zu schillern wie in einem Traum aus Licht. Danach, in der dritten Szene, kehrt das Dunkel zurück: Es handelt sich jedoch hier nicht um eine echte Reprise. Vielmehr bildet sich nun eine neue Klangwelt mit ironischen und verzweifelten Zügen heraus. Der musikalische Verlauf fließt kontinuierlich, wird nicht durch abgeschlossene Nummern untergliedert und besitzt eine innere Periodizität, die fast an eine Passacaglia erinnert.
Ganz anders ist die Oper Super flumina angelegt. Ihre Bezüge reichen, außer zur Bibel, auch zu Friedrich Novalis und zu einem Roman von Elizabeth Smart zurück, aus deren Lektüre das Libretto entstanden ist. Die erste Textversion stammt aus dem Jahr 1983: Schon damals beschäftigte sich Sciarrino mit der Figur einer Obdachlosen, die sich in einem großen Bahnhof verloren hat und in deren Drama eine sowohl menschliche als auch universale Katastrophe schonungslos abgebildet wird.
Bahnhöfe sind dem Transport gewidmete Tempel, sind Denkmäler für die Wanderungen uniformer Menschenmassen. Mit Macht erheben sie sich über den Einzelnen, der erdrückt und überwältigt zurückbleibt. Inmitten des Lärmens und Kreischens eilen die gesichtslosen, zu einer Flut gewordenen Menschen unachtsam an der Tragödie einer Frau vorbei, die ihrer Einsamkeit, ihrem Wahnsinn überlassen bleibt. Eine soziale Tatsache, die jedem schon real begegnet ist, wird hier zum Kern einer szenischen und poetischen Darstellung. Die Oper besteht aus einem Akt in vier Bildern, mit zwei Intermezzi und drei Liedern in der Mitte. Darin finden sich stilisierte Maschinengeräusche, Lautsprecheransagen, die in den letzten Jahren auf italienischen Bahnhöfen aufgezeichnet wurden, und der Chor, die Menschenflut. All dies spielt sich in der für Sciarrino typischen Klangwelt ab, einer Summe von Signalen aus unserer alltäglichen Umgebung. Protagonistin ist die Frau, die Obdachlose, eine Botin der Wahrheit. In ihrer Klage hat Sciarrino den bereits in seinen letzten Arbeiten entstandenen Vokalstil weiterentwickelt.
Es sind – bei identischer Orchesterbesetzung – zwei ästhetisch sehr gegensätzliche Opern, auch in ihrer Form und Sprache: Vor dem Gesetz statisch und rigoros, mit eher strengem Charakter; Super flumina lyrisch und reich an unterschiedlichen Klangsituationen. Etwas ist jedoch beiden Opern gemeinsam, und das ist der Glaube an die Kraft der Tragödie, ihre theatralische Darstellung der letzten Katastrophe, die alle Menschen auf ihrer Reise gleich macht. Sciarrino will uns durch neue Wahrnehmungserfahrungen nicht nur erschüttern. In jedem von uns soll ein Sinn für Brüderlichkeit entstehen.
Paolo Cairoli
(Übersetzung: Christine Anderson)
aus: [t]akte 1/2009
Sciarrino - Uraufführung in Mannheim
Salvatore Sciarrino
Vor dem Gesetz (La porta della legge)
Oper in einem Akt nach dem Text von Franz Kafka (Uraufführung)
25.4.2009 Wuppertal (Städtische Bühnen)
Inszenierung: Johannes Weigand,
Musikal. Leitung: Hilary Griffiths
Super flumina (Uraufführung)
20.05.2011 Mannheim (Nationaltheater)
Musikal. Leitung: Tito Ceccherini,
Inszenierung: Andrea Schwalbach
Verlag: RAI Trade, Verleih: Alkor