Der berühmte Wettlauf um die Erreichung des Südpols ist Thema und Folie von Miroslav Srnkas Oper South Pole für die Staatsoper München. Viel mehr steckt darin als allein die Konkurrenz zweier Männer auf der Suche nach Ruhm.
Vor rund 100 Jahren – am Vorabend des Ersten Weltkrieges – machten sich zwei Expeditionen gleichzeitig auf den Weg, um als erste den Südpol zu erreichen. Ein Team, das des Norwegers Roald Amundsen, gewann das Wettrennen und kehrte wohlbehalten zurück, das andere erreichte ein paar Wochen später das Ziel inmitten einer menschenleeren Eiswüste, erfror aber auf dem Rückweg. Das Ereignis war damals Thema in den Schlagzeilen sämtlicher Tageszeitungen: Das kleine Norwegen konnte einen überraschenden Triumph „für König und Vaterland“ feiern, aber der heroische Tod der Briten verhalf den Männern von der Insel zu einem moralischen Sieg.
Was prädestiniert diesen Stoff, ihn in Form einer Oper in Szene zu setzen? Und welche Rolle spielt die Musik dabei, der Gesang? Die Geschichte von South Pole erzählt nicht nur von einer sensationellen körperlichen Leistung, einem bewundernswerten Akt von Willen und Logistik. Das jedoch wäre für eine Oper zu wenig. Aber als Amundsen und Scott einen der letzten noch unberührten Flecken dieser Erde eroberten, trugen sie sich in die Bücher der Mythologie des 20. Jahrhunderts ein – und gerade Scotts Scheitern zeigte, dass sie dabei auch eine Grenze überschritten. Die Überschreitung dieser Grenze birgt Dimensionen, die auch seit über hundert Jahren nicht an Aktualität verloren haben.
Die beiden Abenteurer und Pioniere Amundsen und Scott stilisierten sich selbst als Helden und wählten die Antarktis als ihre große Bühne. Mit ihren Persönlichkeiten, ihren Brüchen und Abgründen, wurden sie zu einem Mythos des 20. und 21. Jahrhundert, zu Symbolfiguren der Hybris der Moderne. Die Musik Miroslav Srnkas greift die Ereignisse in den Jahren 1911 bis 1912 auf, begibt sich in die Atmosphäre des lebensfeindlichen Eises, der Einsamkeit, von Bewegung und Stillstand der Expeditionen, dem Orientierungsverlust bei Stürmen, der (Schnee-)Blindheit bei Sonnenschein, dem Auf und Ab von Hoffnung und Verzweiflung. Eine Oper für ein Publikum der Moderne, das sich für seine Gegenwart interessiert – ihren Mythos, ihren Fluch und ihre Möglichkeiten.
Uli Aumüller
Absolute Offenheit. Uli Aumüller im Gespräch mit Miroslav Srnka
Wie entstand die Idee zu South Pole?
Auf Wandertouren und in der Natur traten die Fragen auf: Wie ist das, wenn man noch viel weiter weg ist und überhaupt nichts dabeihat, was man in der Zivilisation sonst braucht? Das war der Anfang. Später bin ich auf die Story von Scott und Amundsen gestoßen, die so ungemein spannend in ihrer Zeitlichkeit und in ihrem Drama ist. In einer zweiten Frage geht es um die Oper an sich, die als Form etwas absolut Stilisiertes und Unrealistisches in sich trägt. Ich habe nach einer Realität gesucht, die in sich schon absolut unrealistisch aussieht. Das ist die Antarktis. Wie es dort ist, hat nichts zu tun mit der Welt hier, sie scheint so absolut stilisiert zu sein wie die Opernwelt. Aber das ist nur die Ecke der Realität – und diese hat mich dann fasziniert.
Also ist es gerade die Wirklichkeitsferne der Antarktis, die sie der Wirklichkeitsferne der Oper ähnlich macht?
In einem gewissen Sinne stimmt das so. In dieser Welt dort ist etwas absolut Offenes und „Unbegrenztes“. In der Antarktis gibt es einfach keine Zivilisation. Es gibt nur die Helden, die Figuren, nur die Charaktere in einer unendlichen Welt, die keine Zivilisationsmerkmale trägt. Das gibt dem Stück eine riesige Freiheit. Die Tatsache, dass es dort keine Zivilisation gibt, setzt den Fokus auf die Menschen – in einer extremen Situation. Auch in der Oper sind die Figuren meist in einer extremen Situation und müssen mit sich selbst kämpfen.
Wie klingt South Pole?
Ich habe viel recherchiert. Die Menschen stellen sich die Antarktis still vor, aber sie ist alles andere als das. Die Winde und die Natur und alles, was es da gibt, ist sehr laut. Alles, was auf die Sinne wirkt, ist extremer als das, was wir hier in der Zivilisation je erleben. In unserer Story spielt die Antarktis selbst eine Rolle: als eine Art ständig anwesender „Deus ex machina“, da die Antarktis mit den beiden Expeditionsteams ein Spiel gespielt hat. Die Verhältnisse der Teams waren völlig unterschiedlich. Es scheint fast, als ob jemand bestimmt hätte, welches gewinnen soll. Zum Beispiel dieses Glück, das Amundsen mit dem Wetter hatte, und dieses wahnsinnige Unglück von Scott macht die Antarktis zu einer Art handelnden Entität. Sie ist in der Oper nie personifiziert. Aber wir haben sie im Hinterkopf präsent.
Wovon handelt die Oper?
Die Oper handelt von dem Wettrennen zwischen Scott und Amundsen. Der Untertitel „Eine Doppeloper in zwei Teilen“ erklärt, wie die Musik gemacht ist. Es sind zwei musikalische Schichten, die immer parallel laufen und asymmetrisch in ihren Tempi sind, weil wir die beiden Teams mit wenigen Ausnahmen immer parallel auf der Bühne haben. In der Realität sind sie aber getrennt. Denn sie sind sich ja in der Antarktis nie begegnet. Jeder ist einen anderen Weg gegangen, und der einzige Verbindungspunkt war der Südpol, zu dem sie aus unterschiedlichen Richtungen gekommen sind. Die ganze Oper erzählt zweimal die gleiche Story, eine Geschichte, die sich in Kleinigkeiten verändert, was am Ende zu fatalen Konsequenzen führt. Die Oper vollzieht sich in einer Art Simultaneität, handelt aber auch – und das ist für mich ein zentrales Thema – von Kommunikation. Wir leben heute in einer Welt, in der Kommunikation ständig vorhanden ist. Hier jedoch haben wir zwei Teams, die jahrelang nicht wissen, wie es dem anderen geht. Das Spannende ist, was dann in ihren Köpfen arbeitet. Tom Holloway hat ein faszinierendes Libretto für mich geschrieben, in dem er sich auf die psychologische Entwicklung der beiden Hauptdarsteller und auch der Männer in den Teams konzentriert. Er hat auch in ihrem privaten Leben Interessantes gefunden, was begründen mag, weshalb sie die Expedition unternommen haben. Diese kann man als eine Art Selbstmordveranstaltung auffassen – für die Hälfte der Männer wurde dies ja dann auch Realität.
Und die Musik?
Ich habe eine Struktur gesucht, die in sich absolut fließend sein soll. Was in der Antarktis stattfindet und was die Männer auch in ihren Tagebüchern beschrieben haben, ist ein „Fehlen“. Es fehlt einfach an klaren visuellen Gegenständen. Das einzige, was sie die ganze Zeit sehr gut strukturiert sehen können, ist ein Horizont, und auch der ist sehr oft verschwunden. Wenn es zum Beispiel schneit, dann beschreiben die Männer in ihren Tagebüchern, dass sie einfach überhaupt nicht mehr entscheiden können, wo Boden, Himmel, unten, oben ist. Die Kategorien, mit denen wir unsere Umgebung normalerweise beschreiben, sind verschwunden, und ich habe deswegen nach einer Musik gesucht, die sich frei bewegt.
Ist das für dich sozusagen Science-Fiction aus der Vergangenheit?
Ja, ich liebe Science-Fiction, weil sie sich mit Kategorien beschäftigt, die in sich eine große Freiheit haben. Sie beschreiben nicht unsere Welt, sondern eine größere Welt, mit mehr Möglichkeiten.
Ein ganz wichtiges Thema in der Oper ist dieser Weg zu einem vermeintlichen Ziel. Als die Männer ankommen, stellen sie fest, dass das, wonach sie Jahre oder vielleicht das ganze Leben gestrebt haben, eigentlich leer ist, und dass sie das alles aus ganz anderen Gründen getan haben, weil jeder einen Weg für sich selbst suchte.
Der ganze gesamte gesellschaftliche und politische Diskurs beschäftigt sich mit den Fragen: Worauf haben wir ein Recht? Was kann man sich mit Geld kaufen, was kann man sich mit politischer Kraft einfach nehmen? Es geht um die Macht, etwas für sich zu reservieren. In dieser Motivation, den Südpol zu „gewinnen“, geht es nicht nur um eine mentale Gier, einfach nur darum, physisch als der Erste dazusein, sondern auch darum, Ruhm zu erlangen und einen Teil der Gesellschaft für sich zu gewinnen. Und das hielten die Männer zunächst für ihre wahre Motivation. Erst am Südpol, als sie an einem abstrakten Punkt in einer leeren weißen Wüste stehen, hinterfragen sie diesen vermeintlichen Wert.
(aus [t]akte 2/2015)