Jean-Philippe Rameaus Oper „Castor et Pollux“ in der Fassung von 1737 schüttet ein Füllhorn an Ideen in Handlung und Musik aus. Die rekonstruierte Oper ist nun in der Gesamtausgabe verfügbar.
„Castor et Pollux“ kam im Oktober 1737 auf der Bühne der Académie royale de musique zur Aufführung. Rameau zog für diese Tragédie den jungen Dichter Gentil-Bernard zur Mitwirkung heran, der damit seine ersten Versuche in diesem Bereich unternahm. Er ließ sich von einer Episode aus der Mythologie inspirieren, die davon handelt, dass sich Leda in derselben Nacht mit Jupiter und ihrem Ehemann Tyndareos vereinigte und daraufhin Zwillinge bekam: Pollux, Sohn Jupiters und dadurch ein Halbgott, und Castor, Sohn von Tyndareos, ein einfacher Sterblicher. Ausgehend von dieser doppelten Vaterschaft erarbeitete Gentil-Bernard ein Libretto, in dem gleich am Anfang des ersten Akts Télaïre, die Tochter der Sonne und Castors Verlobte, dessen Tod zu beklagen hat. Sie wehrt sich gegen die Annäherungsversuche von Pollux und fordert ihn auf, Jupiter eindringlich zu bitten, Castor das Leben zurückzugeben. Pollux fügt sich ihrem Wunsch, und nachdem er allerlei Proben bestanden hat, steigt er in die Unterwelt hinab, um Castors Platz einzunehmen. Damit erregt er den Zorn von Phébé, einer Prinzessin und Zauberin, die in Pollux verliebt ist. Castor will nicht, dass sich sein Bruder für ihn opfert, sondern möchte seinen Platz bei den Toten wieder einnehmen – zum Leidwesen von Télaïre. Bewegt von ihrer Liebe und der brüderlichen Verbundenheit, gewährt Jupiter nicht nur Castor, sondern auch Télaïre die Unsterblichkeit. Die Zwillinge werden in einem neuen Sternbild vereinigt. Im Libretto zeigt sich der Einfluss der damals sehr beliebten freimaurerischen Themen wie etwa der Übergang vom Schatten ins Licht. Pollux’ unbescholtene Tugendhaftigkeit und Seelengröße kommen in den Prüfungen zum Ausdruck, bei denen er Verlockungen und Ängsten ausgesetzt wird (durch die „Plaisirs“ im zweiten bzw. die Dämonen der Unterwelt im dritten Akt), aber auch in seinem Verzicht auf die Unsterblichkeit. Zudem symbolisieren Castor und Pollux den Mond bzw. die Sonne, zwei Wahrzeichen der Freimaurerlogen.
Die Oper kam am 24. Oktober 1737 zur Uraufführung und wurde im Dezember 1737 nach 21 Aufführungen wieder vom Pariser Spielplan genommen. Zum Teil liegt der Grund für diesen Misserfolg sicher in der neuartigen Musik sowie im Umstand, dass das Werk mit der Totenfeier für Castor beginnt, die auf den Prolog folgt. Die Lully-Anhänger warfen Rameau „zu viel Gelehrtheit, zu wenig Natürlichkeit und zu viele Schwierigkeiten bei der Ausführung“ vor. Den Komponisten muss der Widerstand gegen seine Musik tief getroffen haben, denn es dauerte siebzehn Jahre, bis „Castor et Pollux“ wieder aufgenommen wurde, und zwar in einer zweiten, stark überarbeiteten Fassung. Diese Fassung erschien 2023 (OOR, IV/23, BA08864-01).
Im Gegensatz zu den meisten anderen Bühnenwerken Rameaus gibt es nur eine einzige Hauptquelle, nämlich die 1737 erschienene Partitur. Sie ist unvollständig, denn stellenweise fehlen Chorstimmen (Hautes-contre und Tailles) und Violinpartien. Die handschriftliche Kopie, die 1737 vom Taktschläger benutzt wurde, und das von den Kopisten erstellte Material sind bis auf einige Fragmente aus der Sammlung Decroix verschollen. Dass 1754 ein Teil der Musik wiederverwendet wurde, ermöglichte die Wiederherstellung der fehlenden Stimmen, mit Ausnahme des Prologs, worin mehrere Passagen rekonstruiert werden mussten. Diese neue kritische Edition enthält zudem etliche bisher unveröffentlichte Abschnitte aus einer gedruckten, in nur wenigen Exemplaren überlieferten Druckbeilage, darunter eine außergewöhnliche Vokalfassung der Chaconne aus dem fünften Akt.
Denis Herlin
(Übersetzung: Irene Weber-Froboese – aus [t]akte 1/2025)