Giselher Klebes umfangreiches Bühnenwerk beginnt sich zu runden. Die Uraufführung von Chlestakows Wiederkehr in Detmold ist Anlass für ein erstes Resümee.
In einem knappen, kursorischen Aufsatz über Verdi („Motivfläche und Motiventwicklung: Dialog und Instrumentalsatz bei Verdi”) macht Carl Dahlhaus, der luzideste und produktivste deutsche Musikologe des ausgehenden 20. Jahrhunderts, eine interessante Parallele namhaft: die Rolle, die die „Motivfläche” als Orchesterstütze rezitativischer Deklamation nicht nur beim jungen Verdi spielt, sondern auch noch in der Musikdramatik der letzten Jahrzehnte, und Dahlhaus nennt dabei ausdrücklich die „sogenannte Literaturoper“. Bei Verdi entstand die „Motivfläche” (Dahlhaus analysiert sie unter anderem anhand des ersten Rigoletto-Finale, der Entführung Gildas) als ein den trockenen Rezitativduktus belebendes und dramatisierendes Moment, das zugleich der integralen Musikalisierung diente und dabei dennoch fähig war, den Primat der Gesangsstimme zu gewährleisten. Dieses „Fundament, das die melodische Diskontinuität der Gesangsstimmen vor dem Zerfall ins Amorphe bewahrt” (Dahlhaus), bekommt in den neuen Opern zusätzlich die Aufgabe, zwischen der „durchkomponierten” Gestaltung und der Gliederung in „geschlossene” Formen zu vermitteln. Somit bezeichnet die „Motivfläche” (die auch als ein in sich bewegter, dynamisierter „Klangraum” beschreibbar ist) ein zentrales musikdramatisches Element, das einen Durchbruch bedeutet für künstlerisch überzeugende „Textdarbietung” in der Oper einerseits, für eine ausgleichende Homogenisierung der Musikströme andererseits. Die Motivfläche als ein ordnender und zusammenfassender Faktor ist umso wichtiger in einer Tonsprache, die, wie diejenige von Giselher Klebe, auf die Voraussetzungen der tonalen Funktionsharmonik im Wesentlichen verzichtet.
Kein Anlass zur Scham
Mit seinem Befund berührt Dahlhaus mithin insbesondere die Produktivität Giselher Klebes, der – neben Hans Werner Henze und Aribert Reimann – der wichtigste Vertreter der deutschsprachigen „Literaturoper” nach dem letzten Weltkrieg ist. Es fällt auf, dass Dahlhaus den Begriff „Literaturoper” in seinem Aufsatz von jeglicher Abschätzigkeit freihält – sehr im Gegensatz zu Beurteilungen, die, zum Beispiel von rigoros avantgardistisch-materialästhetischen Prämissen bewegt oder medienästhetisch motiviert, sich eher in polemischer Abgrenzung von Praktiken der „Literaturoper” definierten. Der „Literaturoper” haftete ihnen zufolge etwas Konservatives an; die vermeintlich altmodische „Vertonung“ einer Bühnenhandlung stand quer zu Tendenzen etwa des „instrumentalen Theaters”, die die musikalischen Aktionen selbst zum theatralischen Gegenstand machten. So wichtig solche von Cage, Kagel und Schnebel methodisch vorangetriebenen Musiktheatertypen waren (die auch bei Wolfgang Rihm, Heiner Goebbels und sogar Hans Werner Henze ihre Spuren hinterließen), so fragwürdig wäre es doch, im Sinne eines linearen Fortschrittsbegriffs ihre Hegemonie für alle Zukunft zu postulieren. Dem Bewusstsein einer vielsträhnigen Tradition und eines mäandernden Geschichtsverlauf drängt sich die Wahrscheinlichkeit auf, dass auch vorübergehend vernachlässigte oder alternative künstlerische Optionen die Chance einer Neuentdeckung und Neubewertung haben. „Literaturoper” muss ja nicht heißen, dass eine musikdramatische Praxis, um überhaupt erst bedeutend zu werden, sich an bedeutende Literatur-Lokomotiven anhängt, sie sozusagen vampiristisch aussaugt. Ein Streichquartett, das sind selbstverständlich vier Musiker in Aktion. Gut und schön, aber man darf sich auch freuen, wenn ein Streichquartett „intime Briefe” vorträgt oder ein „Dankgebet an die Gottheit in lydischer Tonart“ anstimmt, wenn es also – sagen wir – so etwas wie einen poetischen, programmatischen, außermusikalischen „Hallraum” dabei gibt. Die Oper als Konglomerat aus vielen unterschiedlichen Komponenten braucht sich ihrer Geklittertheit niemals zu schämen; die „Literaturoper” schon gar nicht.
Namentlich mit seinem Opernœuvre hat Giselher Klebe einen Werkblock von imponierendem Ausmaß und Format geschaffen. Fast ausnahmslos verband sich diese Arbeit mit bedeutenden Stoffen der Weltliteratur, etwa mit Kleist (Alkmene, 1961), Goethe (Das Märchen von der schönen Lilie, 1968), Schiller (Die Räuber, 1957, Das Mädchen von Domrémy, 1975) oder Balzac (Die tödlichen Wünsche, 1959). Bemerkenswert ist Klebes besondere Liebe zur österreichisch-ungarischen Sphäre Ödön von Horvaths und seiner intrikaten, künstlichen, dämonisierten Folklore (Figaro lässt sich scheiden, 1963, Der jüngste Tag, 1980). Aber auch ein pralles Stück irischer Alltagsmythologie (Ein wahrer Held nach J. M. Synge, 1974) fand in Klebe einen geistesverwandten musikdramatischen Ausdeuter.
Vom konstruktiven Komponieren zu glasklarer Lakonik
Die kompositorischen Anfänge des gebürtigen Mannheimers (Jahrgang 1925) standen im Zeichen der Schönberg-Schule und eines breiten atonal-zwölftönigen Konsens’ in seiner Generation. Damals fühlte sich Klebe durchaus an vorderster Front und betroffen von unverständigen oder reaktionären Angriffen auf die aktuelle Musik; so debattierte er schriftlich mit Widersachern wie Friedrich Blume und Erich Doflein und mischte sich in die öffentliche Musikdiskussion ein, was er später kaum noch tat. Unter dem Einfluss des neugierig-undogmatischen Boris Blacher weitete sich indes die Perspektive eines freilich stets auch stark konstruktivistisch geprägten Komponierens. Der frühe Operneinakter Die Ermordung Cäsars (nach Shakespeare, 1959) gehört zu den „härtesten”, aggressivsten Partituren jener Jahre. Zunehmend wendete Klebe dann eine Zitattechnik an, die den Texturen zu immer reicherer Komplexität verhalf: Insbesondere in die Opern Die Fastnachtsbeichte (nach Carl Zuckmayer, 1983) und Gervaise Macquart (nach Zola, 1995) wurde eine Fülle von heterogenen Materialien bis hin zu Marsch und Volkslied eingearbeitet und mit dodekaphon-atonalen Strukturen synthetisiert. In seiner jüngsten Oper Chlestakows Wiederkehr (nach Gogols Revisor, 2008) erwies sich Klebe als eigenwillig-ingeniöser Librettoschreiber, der die Vorlage noch um eine bitter sarkastische Schlusspointe zu bereichern vermochte. Hierbei hatte ihm seine verstorbene Frau, Lore Klebe, die geschickte und überzeugende literarische Mitarbeiterin der früheren Opern, nicht mehr helfen können. Einen wesentlichen Anteil an Klebes Bühnenwerken haben zahlreiche Ballettkompositionen, die auf Anregung von und in Zusammenarbeit mit der Choreographin Tatjana Gsovsky entstanden. Seinen ersten aufsehenerregenden Erfolg hatte Klebe übrigens 1950 mit einer Orchesterkomposition in Donaueschingen, der Zwitschermaschine nach einem berühmten Bildtitel von Paul Klee; der schweizer Maler gehörte zu Klebes künstlerischen Initiationserlebnissen.
Bei Chlestakows Wiederkehr fiel die glasklare Lakonik der Diktion auf – das Fehlen von Redseligkeit und Redundanz ist ja keineswegs die selbstverständliche Qualität eines jeden Altersstils. Klebe orientierte sich dabei offensichtlich an Verdis Falstaff und tat gut daran, einen fettfreien, drahtigen Komödienton zu avisieren. Wie hellsichtig die Verbindungslinie war, die Carl Dahlhaus von Verdi zum literarischen Operntypus à la Klebe zog, zeigt sich nicht nur hier. Verdi gehörte überhaupt von je zu den Hausgöttern Klebes, und er widmete diesem großen Vorbild bereits 1963 einen Aufsatz in der Zeitschrift Opernwelt („Verdi als Maß”). Und sein Konzert für zwei Klaviere mit dem Untertitel Poema drammatico (1999) spickte er mit zahlreichen Verdi-Zitaten und -Anspielungen. Zweifellos ist es auch Verdis (in einem weiteren Sinne christlich geprägte) humanistische Grundhaltung, die für den Künstler Giselher Klebe wegweisend blieb.
Hans-Klaus Jungheinrich
aus: takte 2/2008
Verdi als Wegweiser. Die Aktualität Giselher Klebes
Giselher Klebe
Opern bei Bärenreiter
Das Märchen von der schönen Lilie. Nach J. W. v. Goethe. Schwetzingen 1969
Ein wahrer Held. Text nach John Milligton Snyges Stück „The Playboy of the Western World“. Zürich 1974
Das Mädchen aus Domrémy. Nach Friedrich Schiller. Stuttgart 1976
Das Rendezvous. Libretto nach Michail Sostschenko. Hannover 1977
Der Jüngste Tag. Nach dem Schauspiel von Ödon von Horvath. Mannheim 1980
Die Fastnachtsbeichte. Nach einer Erzählung von Carl Zuckmayer. Darmstadt 1983
Gervaise Macquart. Nach Emile Zola. Düsseldorf 1995
Chlestakows Wiederkehr. Nach Gogols „Revisor“. Detmold 2008