Jossi Wieler, Sergio Morabito und Sébastien Rouland haben im März an der Staatsoper Stuttgart Halévys brisante Oper La Juive herausgebracht und aus dem Stück ein Exempel aktuellen Musiktheaters gemacht.
Die 1835 uraufgeführte, seit den 1930er-Jahren von den Bühnen verschwundene und erst in jüngster Zeit zaghaft wieder gespielte Jüdin Halévys ist mit ihrem Ineinander von christlichem Antijudaismus und jüdischem Märtyrertod angesichts der jüngsten Geschichte noch immer von höchster Brisanz.
Die Schwierigkeiten des Umgangs sind im Stück selbst begründet. Halévy und sein Librettist Eugène Scribe haben in La Juive nichts Geringeres unternommen, als das individuelle Schicksal der Hauptfiguren vor ein Geschichtspanorama zu stellen, und das Ganze mit einer amourösen Intrige unterfüttert. Der Jude Eléazar und sein Gegenspieler, der katholische Kardinal Brogni, sind dabei allerdings nicht Protagonisten eines Ideendramas, sondern agieren fast ausschließlich als Individuen ihres Schicksals. Verkompliziert wird die das Stück beherrschende Auseinandersetzung zweier Väter, die gleichermaßen Täter wie Opfer sind, durch Rachels Liebesbeziehung zum Reichsfürsten Léopold – ein Doppelspiel, dessen Gefühlskatastrophe die Handlung zur schlimmstmöglichen Wendung treibt. Erst im Augenblick ihrer Hinrichtung, als es zu spät ist, enthüllt Eléazar, dass seine vermeintliche Tochter Rachel in Wahrheit Brognis Kind ist, das er einst vor dem Feuertod rettete.
An der Staatsoper Stuttgart (Premiere: 16.3.2008, Musikal. Leitung: Sébastien Rouland) vertrauten Jossi Wieler und Sergio Morabito in ihrer weitgehend strichlosen Inszenierung Halévys kontrastiver Mischung von emotionalen Affekten und spektakulären Chorszenen. Der erste Schock stellte sich ein, als der Vorhang hoch ging. Man fühlte sich ins Laientheater versetzt: links das Portal einer Kirche – die Handlung spielt 1414 zur Zeit des Konstanzer Konzils –, rechts das schmucke Fachwerkhaus des jüdischen Goldschmieds Eléazar, dazwischen ein Platz, der den Blick auf einen Wehrgang freigibt. Ein pittoreskes Mittelalter im überdimensionierten Puppenstubenformat, wie das Libretto es andeutet. Doch es sollte, scheinbar, noch schlimmer kommen. Wenn der Chor nach dem einleitenden „Te Deum” von der seitlichen Kulisse auf die Szene strömt und sich die Massenhysterie aus Jahrmarktstaumel und Judenhass auf Eléazar und Rachel entlädt, werden wir zu Zeugen einer farbenfreudigen Verkleidungsshow, die aus den Alltagsfiguren jene Laienschar macht, die als blindwütiges Kollektiv das grausame Katz-und-Maus-Spiel des antisemitischen Pogroms beginnt.
Die überrumpelnde Theatralik erinnert an Elias Canettis Beschreibung der Hetzmeute in Masse und Macht und schreckt selbst vor der Groteske nicht zurück – wenn Neider dem Kaiserdarsteller die Krone und den Purpurmantel herunterreißen oder gleich mehrere Päpste sich um den Krummstab balgen.
Schnell wird klar, um was es dem Regieduo Wieler/Morabito geht: Die Gewalt der Bilder erzeugt Vexierbilder der Gewalt. Die Voyeure auf beiden Seiten der Rampe sind Mitwirkende im Spiel, Zuschauer und Handelnde zugleich. Beklemmend wird dieses Spiel im Spiel im Schlussakt, wenn der Chor im karnevalesken Alptraum mit Hakennasen, Judenhüten und Taschenlampen erst zur Hetzjagd bläst, dann zum Trauermarsch in schwarzer Maskierung kofferschleppend und niedergebeugt den endlosen Zug der Juden in die Shoah karikiert – also das Entsetzen zeigt und zugleich mit ihm Spott treibt –, und schließlich den letzten Gang der Verurteilten beklatscht.
Bert Neumann hat die Bilder der fünf Akte auf eine Drehbühne gesetzt, die in den drei Mittelakten mit Laufgängen und Treppen versatzstückartig das hintere Gestänge des vorderen Szenenaufbaus freigibt – ein Gitterwerk, das die Mechanismen der Handlung freilegt, die Figuren gleichsam skelettiert und damit ihre inneren Konflikte nach außen stülpt. Dass dabei auch die Komik – der den starken Mann mimende Schwächling Léopold im weinroten Spießer-Blazer, seine Gattin Eudoxie als Domina in Reizwäsche, die zum farbenfrohen Kinderkreuzzug umfunktionierte Ballettpantomime – dick aufgetragen wird, ist durchaus im Sinne des Stücks.
Betroffenheit entsteht gerade nicht durch eine vordergründige Politisierung, sondern durch eine ästhetische „Über-Setzung”, die die Position des Zuschauers hier und heute ins Spiel mit einbezieht. Wieler/Morabito treiben die antisemitischen Klischees dabei so weit, dass uns der Schrecken im Hals stecken bleibt und wir nicht mehr wissen, was Spiel und was Spiel im Spiel ist. Sichtbar werden auf diese Weise gerade die seelischen Ambiguitäten und psychischen Grenzsituationen, in die die Handlung immer wieder die Figuren treibt. Und selbst der veränderte Schluss – Rachel und Eléazar werden nicht hingerichtet, sondern Eléazar entreißt dem als Henker kostümierten Brogni die Pistole und tötet erst Rachel und dann sich selbst – fügt sich ins Spiel: Eléazars ungelöster Zwiespalt zwischen unversöhnlichem Christenhass und väterlicher Liebe wird aufgehoben im Selbstopfer des zum Tode Verurteilten und der fatalistisch liebenden Rachel.
Aktueller, brennender kann Musiktheater nicht sein, gerade weil jeder direkte Bezug zur weiterschwelenden Brisanz des Stoffes vermieden wurde. Wer die Inszenierung mehrfach gesehen hat, kann überdies bestätigen, dass die Intensität, mit der alle Beteiligten bei der Sache sind, nicht nachgelassen, sondern noch zugenommen hat. Auch musikalisch hat die Produktion seit der Premiere hörbar an Gewicht gewonnen. Mag für manchen Chris Merritts Eléazar, szenisch ein Fels in der Brandung, stimmlich grenzwertig sein: hier muss er wohl doch so singen, wie er singt! Spielerisch eindrucksvoll, wenn auch stimmlich unausgeglichen, die junge Russin Tatiana Pechnikova als Rachel, grandios in jeder Hinsicht Liang Li als Brogni. Glanzvoll schließlich der Stuttgarter Opernchor: Wie es Wieler/Morabito gelingt, jeden Einzelnen als individuell wahrnehmbare (und individuell gespielte!) Gestalt zu erfassen und gleichzeitig das Kollektiv zur bedrohlichen Masse zu formen, bleibt für jeden, die die Aufführung gesehen hat, unvergesslich.
Halévys musikalischer Eklektizismus macht es dem Dirigenten nicht leicht, großbögig die Akte zusammenzuhalten. Sébastien Rouland am Pult hat deshalb mit Nachdruck die einzelnen Facetten hervorgehoben – die Melodramatik all’italianità im zweiten und vierten Akt, die den Lustspielton der Opéra comique streifende Auseinandersetzung zwischen Eudoxie und Léopold im dritten Akt, nicht zuletzt die Unerbittlichkeit der Chöre, die dem Ganzen einen Zug ins Epische gibt und damit auch musikalisch die Originalität des Stücks akzentuiert.
Uwe Schweikert
aus: takte 2/2008
Vexierbilder der Gewalt. Halévys „La Juive” an der Staatsoper Stuttgart
Pittoreskes Mittelalter im Puppenstubenformat. „La Juive" in Stuttgart (Photo: Martin Siegmund)