Cavallis Il Xerse war eine der erfolgreichen Opern ihrer Zeit. Nun erscheint das turbulente, halb tragödien-, halb komödienhafte Werk in der italienischen und der Pariser Fassung im Rahmen der Cavalli-Werkausgabe.
Il Xerse, ein 1655 in Venedig uraufgeführtes „Dramma per musica“ des Librettisten Nicolò Minato und des Komponisten Francesco Cavalli, ist eine historische Oper. Sie erzählt auf Grundlage des antiken Geschichtsschreibers Herodot von dem Perserkönig des 5. Jahrhunderts v. Chr., der sich – vergeblich – anschickte, Griechenland zu erobern. Hiermit folgte die Oper der damaligen Vorliebe für Exotisches, enthielt aber zugleich auch eine politische Botschaft, denn die (historischen) Griechen und Perser konnten mit den (zeitgenössischen) Venezianern und Türken – mit welchen sich Venedig seit 1645 im Krieg befand – identifiziert werden. Allerdings ist in dieser Oper der geschichtliche Rahmen weitgehend mit einer Intrigenstruktur verbunden, die einem Stück Lope de Vegas entlehnt ist. Darin werden König Xerse und sein Bruder Arsamene in Liebeswirren mit gleich drei Frauen gezeigt, was zudem noch um eine frei erfundene Handlung auf Dienerebene erweitert wird. Der frühen venezianischen Opernästhetik entsprechend, trifft hier also Tragödien- auf Komödienhaftes, wobei das heitere Element auch vor der Herrscherebene nicht haltmacht. So wird gleich zu Beginn der Oper gezeigt, wie Xerse sich in einen Baum verliebt und diesen daher schmücken und von unterirdischen Mächten beschützen lässt. Im Ansatz ist diese Episode historisch verbürgt und wohl Ausdruck eines verbreiteten Naturkults zur Zeit Xerses, sie wird jedoch im Libretto von 1655 ins Lächerliche gezogen. Eine weitere politische Botschaft war die Bloßstellung der Monarchie, der die Venezianer gern selbstbewusst ihre Verfassung als Stadtrepublik entgegensetzten.
Die Dramaturgie des Il Xerse-Librettos basiert auf der Gegenüberstellung von Wirklichkeit und Illusion (in Form von Verkleidungen, fehlgeleiteten bzw. missverstandenen Briefen etc.), ebenso auf unvermittelten Kontrasten (so stehen herzzerreißende Klagegesänge neben dem Gähnen von Dienerfiguren), auf dem Spektakulären (etwa eine einstürzende Brücke über den Hellespont) und einem Sprachwitz in mitunter überbordendem Tempo. Dieser Dramaturgie wird die Musik Cavallis kongenial gerecht: mit einem geschmeidigen und flexiblen Rezitativstil, dessen oberstes Ziel eine minutiöse Affektdarstellung ist, und der deshalb fließend in einen ariosen Stil übergehen kann und bei kurzen, rasch aufeinanderfolgenden Dialogteilen diese immer wieder auch überlappen lässt − so dass die Personen auf der Bühne gleichsam durcheinanderzureden scheinen. Weiter arbeitet der Komponist mit einer subtilen Verteilung und Abstufung der Arien (mit obligater Instrumentalbegleitung oder ohne), die mit dem Handlungsablauf verwoben sein und aus szenischen Gründen fragmentiert werden können wie z. B. die erste Arie der Fürstentochter Romilda, die man sich allmählich aus der Ferne nähern hört.
Il Xerse war eine der erfolgreichsten Opern des 17. Jahrhunderts, was sich u. a. daran zeigt, dass sie innerhalb kürzester Zeit nicht nur in verschiedenen anderen italienischen Städten, sondern 1660 sogar in Paris nachgespielt wurde – und dies zu keinem geringeren Anlass als der Hochzeit des französischen Königs Ludwig XIV. Wie bei Wiederaufnahmen andernorts üblich, wurde die Oper auch für Paris (und in diesem Falle tiefgreifend) verändert. Das Besondere hierbei ist, dass sich aufgrund der guten Quellenlage – mit zwei italienischen Partituren und zahlreichen Librettodrucken sowie auf französischer Seite mit einer Partiturabschrift und einem Szenar – die Pariser Revision detailliert nachvollziehen lässt und sie alle Anzeichen einer typisch französischen Rezeptionssituation aufweist. Zu diesen Überarbeitungsmerkmalen gehören die Transposition der Rolle des Titelhelden (ursprünglich von einem Altkastraten gesungen) ins Bassregister, eine Einteilung in fünf (statt in drei) Akte, eine starke Beschneidung des komischen Elements (bis hin zur vollständigen Beseitigung einer eigenständigen Dienerhandlung), die Streichung oder Textierung zahlreicher Koloraturen in Arien sowie eine grundlegende Neufassung der Rezitative. Sie sind in der Pariser Fassung über weite Strecken durch die Verkürzung von Notenwerten beschleunigt worden, wurden aber rhythmisch auch so adaptiert, dass das bereits angesprochene Durcheinanderreden vermieden ist. Beides zusammengenommen darf man wohl als eine Aufbereitung für ein des Italienischen weithin nicht mächtigen Publikums interpretieren − die Rezitative wurden durchsichtiger, gingen aber auch rascher vorüber −, während die weiteren Veränderungen als Eingehen auf den vorherrschenden französischen Geschmack verstanden werden können.
In jedem Fall liegt mit der Pariser Version von Il Xerse eine faszinierend neuartige und eigenständige dramaturgisch-musikalische Struktur vor, die von Wissenschaft und Aufführungspraxis bislang noch kaum wahrgenommen oder gar wieder auf die Bühne gebracht wurde. Die Pariser Überlieferung hat freilich auch ihre Tücken, was eine historisch-kritische Ausgabe als Desiderat erscheinen lässt. Zum einen betrifft das die Transposition der Rolle von Xerse ins Bassregister: Wenngleich diese auf den ersten Blick unproblematisch erscheinen könnte – es handelt sich zumeist um eine simple Oktavversetzung abwärts –, ergeben sich doch bei näherem Hinsehen satztechnische und Stimmführungsprobleme, wie sie in einer historisch-kritischen Ausgabe nicht einfach ignoriert werden können, und denen daher mit Vorschlägen für eine Abwärtstransposition auch des Basso continuo an bestimmten Stellen begegnet wird. Zum zweiten geht es um Unterschiede zwischen den Pariser Quellen (Szenar und Partitur), die offensichtlich verschiedene Umarbeitungsstadien der Oper spiegeln, wobei jenes der Partitur vor dem des Szenars liegt: Erst in einem späteren Stadium als dem, welches durch die Partitur dokumentiert ist, wurden bestimmte Szenen für Paris gestrichen und manche Rollen andersartig konzipiert: etwa der Diener Elviro, der nach der Partitur (wie auch in der venezianischen Überlieferung) als Blumenverkäufer verkleidet auftritt, nach dem Szenar aber als Türke (wodurch der Türkenbezug in der Pariser Fassung noch stärker herausgearbeitet erscheint). Derlei Unterschiede werden in der Edition, die das Libretto – und damit bei der Pariser Fassung das Szenar – einschließt, dokumentiert und transparent gemacht, so dass sie nicht zuletzt für die Aufführungspraxis fruchtbar gemacht werden können: Heutige Inszenierungen könnten sich etwa an den Streichungen des Szenars orientieren. Ähnlich wie etwa im Falle der italienisch-französischen Doppelfassung von Christoph Willibald Glucks Orpheus-Oper wird sich daher in Zukunft die Möglichkeit bieten, zwei auf den Komponisten zurückgehende Fassungen von Cavallis Il Xerse detailliert zu vergleichen und für die Aufführung zwischen diesen Fassungen zu wählen.
Michael Klaper
aus: [t]akte 2/2015