Das Konzert, das Paul Wittgenstein bei Maurice Ravel in Auftrag gab, ist das berühmteste für den kriegsversehrten Pianisten. Nun liegt es in einer Urtext-Ausgabe auf dem neuesten Stand der Quellenbewertung vor.
Sein Schicksal berührte. Kaum hatte Paul Wittgenstein (1887–1961) eine pianistische Karriere begonnen, war der Erste Weltkrieg ausgebrochen. Im österreichisch-ungarischen Kriegsdienst wurde er verletzt, sein rechter Arm musste amputiert werden. Davon unbeirrt knüpfte Wittgenstein nach dem Krieg dort an, wo er hatte aufhören müssen. Er präsentierte sich wieder am Konzertflügel, nun mit Werken für nur eine Hand. Das Publikum bewunderte ihn für die psychische und physische Überwindung eines vom Krieg gezeichneten Körpers. Wittgenstein war ein Symbol für Mut und Unerschütterlichkeit.
Seine pianistischen Fähigkeiten wurden jedoch auch kritisiert. Tonaufnahmen zeugen von technischen Mängeln seines Klavierspiels. Dass sich Wittgensteins Name dennoch in die Musikgeschichte hat einschreiben können, hängt damit zusammen, dass ihm die Entstehung von bedeutenden Werken für die linke Hand zu verdanken ist. Angewiesen auf repräsentative Stücke, erteilte er bezahlte Aufträge an die berühmtesten Komponisten seiner Zeit, darunter Richard Strauss, Paul Hindemith, Sergej Prokofjew und Benjamin Britten. Das Konzert für die linke Hand für Klavier und Orchester von Maurice Ravel ist wohl das bekannteste von zwanzig Klavierkonzerten, deren Komposition Wittgenstein veranlasste.
Als Wittgenstein und Ravel im Jahr 1929 einen Kompositionsauftrag vereinbarten, war Ravel als Komponist international gefeiert. Wegen der vorgesehenen 6.000 US-Dollar hätte Ravel diesen Auftrag nicht annehmen müssen. Auch von einer besonderen Wertschätzung gegenüber Wittgenstein wissen wir nichts. Vielmehr scheint es hauptsächlich die kompositorische Herausforderung gewesen zu sein, die Ravel reizte, ein Klavierkonzert für die linke Hand zu schreiben. Von ihm selbst ist überliefert, dass er bei der Komposition danach strebte, den Eindruck eines zweihändigen Werkes zu erwecken. Die besondere Schwierigkeit bestehe zudem darin, trotz der Reduktion auf nur eine Hand ein Stück in Konzertlänge interessant zu gestalten. Das Ergebnis war ein hochvirtuoses und zugleich zutiefst emotional wirkendes Konzert in nur einem Satz, bei dem Ravel verschiedene stilistische Elemente zu einem fesselnden und abwechslungsreichen Ganzen zusammenfügte.
Als zu wenig effektvoll beurteilte Wittgenstein das für ihn geschaffene Werk, nachdem er es um den Jahreswechsel 1930/1931 erhalten hatte. Er wollte im Rampenlicht stehen und änderte bedenkenlos Solostimme und Orchestrierung ab, damit sie diesem Bedürfnis entsprachen. Interpreten seien Sklaven, die sich strikt an den vom Komponisten geschaffenen Notentext zu halten haben, soll der französische Komponist entgegnet haben, und wollte Wittgenstein daran vertraglich gebunden wissen. Aufgrund dieser grundsätzlichen Diskrepanzen kam eine gemeinsame Aufführung erst im Januar 1933 in Paris zustande, ein Jahr nach der Wiener Uraufführung des Werks. Eine für Ravel vollkommen zufriedenstellende Aufführung konnte gar erst nach Ablauf von Wittgensteins Exklusivrechten im März 1937 mit Jacques Février stattfinden. Das Ende der Schutzfrist machte dann auch die Drucklegung des Werkes möglich, die von dem gesundheitlich schwer beeinträchtigten Ravel, der wenige Monate später starb, jedoch nicht mehr vollständig begleitet werden konnte.
Wittgensteins Rolle ist nicht nur für die Genese des Werks, sondern auch für die Bearbeitung der vorliegenden historisch-kritischen Ausgabe des Werkes zentral. In seinem privat verwalteten Nachlass haben sich bedeutende Quellen erhalten, die für diese Edition erstmals ausgewertet werden konnten. Mit ihrer Hilfe war es dem Herausgeber Douglas Woodfull-Harris möglich, Notationsunstimmigkeiten und widersprüchliche Lesarten in den Quellen zu klären sowie Fehler in der Erstausgabe zu korrigieren. Als wichtiges Zeugnis der frühen Aufführungsgeschichte, die mehrere Jahre lang allein von Wittgenstein gestaltet wurde, werden im Klavierauszug neben den vom Komponisten vorgegebenen Fingersätzen auch die des Widmungsträgers beigegeben. Schließlich wird die neue Ausgabe durch eine ausführliche historische Einführung abgerundet, die auf dem aktuellen Forschungsstand einen Überblick über Entstehungs-, Publikations- und Aufführungsgeschichte des Werks gibt sowie Aspekte der Rezeption und Aufführungspraxis berücksichtigt.
Christine Baur
(aus [t]akte 1/2017)