Nach dem Violin- und dem Klavierkonzert hat sich Dieter Ammann mit der Bratsche und ihren solistischen Möglichkeiten beschäftigt. Zwei Dinge fallen auf: unverstellte Tonalität und Einflüsse des Politischen.
Mit Unterbrechungen arbeitet Dieter Ammann seit vier Jahren an einem neuen Konzert. Nach dem Violinkonzert „unbalanced instability“ (2012/13) und dem Klavierkonzert „Gran Toccata“ (2016–2019) widmet sich Ammann nun im Auftrag von Sinfonierochester Basel, Münchner Kammerorchester, Lucerne Festival, Tongyeong Music Festival und Esprit Orchestra Toronto der Bratsche. Vor allem die tiefe Lage der tiefsten Saite des Instruments reizt ihn, „weil dies das Spektrum ist, das ich in meinem Geigenkonzert nicht hatte und ich die Bratsche dort unten extrem gern höre“. Das Konzert beginnt mit einer ironischen Hinterfragung der Gattung: Das Instrument soll „den Prozess des Einstimmens imitieren“, so die Spielanweisung im ersten Takt der Solostimme. Es erklingt zuerst die leere C-Saite, aber eine kleine Sekunde zu hoch, gefolgt von einer Quinte. Schließlich, nach einer verminderten Quinte, erklingen darüber noch zwei weitere reine Quinten. Nicht nur dass die beiden untersten Saiten des Instruments am Anfang „verstimmt“ zu sein scheinen, das Instrument hat auch noch eine zusätzliche, „imaginäre“ fünfte Saite. Doch dieser „Witz“ zu Beginn ist das einzige Lustige an dem Werk. Aus Spaß wird schnell Ernst, und es beginnt ein „Kampf“ zwischen Soloinstrument und Orchester: „Die Viola muss sich als Individuum dem Tutti gegenüber Gehör verschaffen“ (Ammann). Die Gegenüberstellung von Individuum und Kollektiv, die verschiedenen Grade von „Annäherung und Abstoßung“, thematisiert der Komponisten in allen seinen konzertanten Werken.
Nach dem pausendurchsetzten Anfang intensivieren sich die Ereignisse, und die Musik erreicht einen hohen Dichtegrad. Die Quinte des Beginns ist nun das strukturell wichtige Intervall, es erscheint sowohl melodisch in der Horizontalen, als auch harmonisch in der Vertikalen – hier durchaus „tonal“ gedacht. Im Bestreben nach Schönheit vollzieht der Komponist in diesem Werk einen weiteren Schritt zu einer unverstellten Tonalität. „Unverstellt, aber nicht unreflektiert“, wie Ammann ausführt, „denn diese Zonen von Tonalität werden einerseits verschiedenen Zuständen von (In-)Stabilität ausgesetzt und darüber hinaus mit klanglich völlig unterschiedlichen Atmosphären konfrontiert“.
Dieter Ammann ist ein hochpolitischer Mensch. Die auf verschiedenen Ebenen empfundene und stattfindende „Veränderung der Ordnung“ führt dazu, dass seine Musik zum allerersten Mal „in ihrer Formwerdung auch von Ereignissen außerhalb ihrer selbst kontaminiert“ wird. Der Klang wird zur Geschichte, ohne dass diese hörend nachvollzogen werden muss, denn seine Musik ist „nicht Mittel, sondern der Zweck. Der Klang ist kein Vehikel für einen wie auch immer gearteten Informationstransfer. Er IST die Information. Er spricht nicht über sich, sondern aus sich, ja eigentlich ‚für sich‘ im eigentlichen Wortsinn.“ Darüber hinaus findet erstmalig aber auch die Verarbeitung eines persönlichen Verlusts, der Tod eines engen Freundes und Berufskollegen, seinen Niederschlag im Klanggeschehen. Überwiegend dem Soloinstrument ist diese „zitathafte Klage“(Ammann) überlassen.
Eigentlich sollte das Klavierkonzert schon „no templates“ heißen, womit primär „eine Offenheit des Denkens im Umgang mit der Gattung“ gemeint war, aber auch „eine Offenheit bezüglich der Vielfalt der eingesetzten Mittel“. Nun hat Ammann diesen Titel seinem Violakonzert vorangestellt. Seine Musik, so Ammann, „vereint eine große Vielfalt verschiedenartiger Texturen". Im Verlauf eines Stücks kann zu jedem Zeitpunkt alles passieren. Einzig konstant ist der stete Wandel „vom fließenden Übergang bis zur Ruptur“. Die Musik befindet sich so in permanenter Kommunikation, nach außen hin, gleichzeitig aber auch nach innen, indem sie sich selber befragt, bisweilen gar in Frage stellt.“ Das Resultat, auch in diesem Konzert, ist immer eine spannende, „dramaturgisch stark durchgestaltete“, vor allem aber eine sprechende, mit Publikum kommunizierende und mitreißende Musik.
Robert Krampe
(aus [t]akte 2/2024)