In Viaggiatori für Soli, Chor und Orchester nach Hofmannsthal, Wölfli, Dante und Hölderlin vertont Andrea Lorenzo Scartazzini „Situationen des Unterwegs-Seins, gleichsam Reiseberichte von Orten, die es nicht (mehr) gibt – laute und stille Orte der Fantasie und der philosophischen Spekulation“.
Mit einer nachdenklichen Reflexion über die Zeit beginnt Andrea Lorenzo Scartazzini Viaggiatori („Reisende“) seine Komposition zum 100-jährigen Bestehen des Basler Bach-Chors (Uraufführung: 18.11.2011 Basler Münster): Im Prolog vertont er den Monolog der Marschallin aus Strauss’/Hofmannsthals Rosenkavalier (uraufgeführt im Gründungsjahr des Chors 1911) als vielstimmiges Chorgedicht, um den das Orchester einen flüchtigen, filigran-auratischen Klangfluss legt. In den folgenden Sätzen komponiert er „drei poetische Entwürfe, drei zu Klang gewordene Stationen: Irdisches Megalopolis, unterweltliches Dämmern und entrückte Götter.“
Der Komponist schreibt über sein 35-minütiges Werk für Soli, Chor und Orchester:
„Dem ersten Satz liegt ein Text des schizophrenen Künstlers Adolf Wölfli zugrunde, der den größten Teil seines Lebens in der psychiatrischen Anstalt zubrachte, dort ein gigantisches, 25.000 Seiten umfassendes Werk aus Zeichnungen, Collagen und Texten schuf und sich ein neues, großartig-buntes Leben erdichtete, den Kosmos bereiste, die Sankt-Adolf-Riesen-Schöpfung errichtete und sich als deren Herrscher Sankt Adolf II. inthronisiert. Auf seiner Weltreise besucht er zahlreiche Städte, die er minutiös, obsessiv und voller Stereotypien beschreibt. In der Vertonung für Tenor und Sopran ,spricht‘ eine multiple Persönlichkeit: Wörter und Sätze überlagern sich, verbohren und verschränken sich ineinander. Wie die manisch-übersteigerte Beschreibung selbst wuchert auch die Musik: expressionistisch-grell und durchsetzt von perkussivem Baulärm mündet sie in ein babylonisches Stimmengewirr des Chors und findet zu einem krachenden Schluss.
Der musikalischen Groteske folgt eine Elegie, ein introvertierter Trauergesang über Worte aus dem IV. Canto der Divina Commedia Dante Alighieris. Sein Weg durch die Hölle führt den Dichter in Begleitung Vergils auch in den Limbus, einen Ort, wo weder Freude noch Schrecken herrschen, sondern ewiges Grau. Rede und Wechselrede der beiden Dichter sind dem Bass vorbehalten, wobei die Diktion der beiden Figuren unterschiedlich gestaltet ist. Dem Chor kommt keine erzählerische Funktion zu, seine Vokalisen sind in den musikalischen Fluss eingebettet und veranschaulichen mit seufzenden Clustern und langgezogenen einstimmigen Linien die emotionale Topografie dieser trostlosen Seelenlandschaft.
Friedrich Hölderlins kurzes und rätselhaftes Gedicht ,Lebensalter‘ – ist eine philosophische Gedankenreise an antike Stätten, die nach dem Geschichtsbild des Dichters Zeugen für eine glückhafte Verbindung der Menschen mit dem Göttlichen sind. Doch diese Antike existiert nicht mehr; dem heutigen Menschen ist die natürliche Verbindung mit der transzendenten Sphäre entzogen: ,fremd / Erscheinen und gestorben mir / Der Seligen Geister‘. Dieser letzte Satz für Chor und Sopran ist eine Metamorphose und darin spiegelt sich ein wesentlicher Aspekt des Gedichtes. Die satte Robustheit des Anfangs durchläuft in mehreren Schleifen prozesshaft eine Verwandlung; das Kollektiv wird vom Individuum abgelöst und das Konkret-Gestalthafte verdampft allmählich zu jenen schwirrenden, ätherisch-flüchtigen Partikeln, welche im Prolog das Vergehen der Zeit symbolisierten.“
Andrea Lorenzo Scartazzini / Marie Luise Maintz
(aus [t]akte 2-2011]