Lisa Illean (* 1983) lädt den Hörer ein, „in eine Welt einzutauchen, in der nahezu völlige Stille und Regungslosigkeit das Gewebe der Klänge prägen“ (Gramophone).
Der akribische Einsatz von nicht temperierten Stimmungen verleiht den Kompositionen der in Großbritannien lebenden Australierin Lisa Illean subtile harmonische Farben, die der Sydney Morning Herald als „exquisit ruhige Schatten“ bezeichnete. Dieses Halbdunkel liegt über Werken wie Tiding für E-Gitarre, aufgeführt von Yaron Deutsch bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik und „Time:Spans“ (New York), „ever-weaver“ für Cello und Klavier, uraufgeführt vom Ensemble Intercontemporain, ebenso auch über dem Panoramablick von „février“ für Klarinette, Cello und Klavier (2020). „Sleeplessness...sails“, eine traumartige Vertonung nach Osip Mandelstam für Mezzosopran und Klavier, wurde für die BBC Proms 2018 geschaffen.
Das Orchesterwerk „An acre ringing, still“ von 2024 hat seinen Namen vom angelsächsischen æcer, „offenes Feld“. Das „ringing, still“ des Titels spielt mit seiner doppelten Bedeutung von „schallend“ und „einkreisend“ und spiegelt die reiche Vorstellungswelt der Komponistin von musikalischer Zeit und musikalischem Raum wider. In dem 18-minütigen Werk sind die Musiker in ein Kammerorchester und ein kleineres, dahinter platziertes und in den für Illean charakteristischen nicht temperierten Stimmungen spielendes Consort aufgeteilt, zu denen als weitere Schicht vorab aufgenommene Klänge treten. Spuren der Vergangenheit, Blicke in die Zukunft und das langsame Geschehen der Gegenwart entstehen zwischen diesen Gruppen, treten wieder zurück und überlagern sich.
Das nur teilweise Gehörte und ungenau Wahrgenommene sind Schlüsselprinzipien von Illeans Musik, die durchscheinende und transparente Texturen, Reflexionen und ein zartes Spiel von Licht und Schatten ausformt. Wie Wasser ist Illeans Musik von Oberflächenspannung beseelt. Timothy Munro bemerkt die „sanfte Flüchtigkeit“ ihres Werks: „Harmonien verschieben sich gletscherartig langsam, Töne tauchen kaum auf, Töne gleiten langsam, Geschwindigkeiten ändern sich unmerklich.“
Illeans schimmernde musikalische Oberflächen spiegeln ihr intensives Interesse an der bildenden Kunst wider. Der Holzschnitt „Deep Water“ von Christine Baumgartner war der kreative Ausgangspunkt für ihre Tiding-Serie. In „Tiding II (silentium)“ für Sopransaxophon, Klavier, Schlagzeug und vorab aufgenommene Klänge werden musikalische Ideen durch präzis kalibrierte rhythmische Schichten an die Oberfläche gebracht. Das 17-minütige Stück wurde 2021 vom Trio Accanto bei den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführt und feierte sein britisches Debüt 2023 beim Huddersfield Contemporary Music Festival.
„arcing, stilling, bending, gathering“ (2023) – ein 19-minütiges Werk für Klavier, ein zwölfköpfiges Streicherensemble und vorab produzierte Klänge – wurde teilweise durch die Erinnerung der Komponistin an zwei Filme von Sergei Eisenstein inspiriert, in denen flüchtige Spiegelungen in Schaufenstern erscheinen; Illeans Musik verarbeitet diese Idee übereinanderliegender transparenter Schichten, die sich verschieben, verschwimmen und verwandeln. Darin vermischen sich quasi gefrorene Akkorde und fließende Klangteppiche, wobei sich der Fokus ständig verändert. Das Stück gab einer 2024 erschienenen Porträt-CD (NMC) ihren Namen, auf der Orchester-, Ensemble- und Kammermusikwerke zu hören sind, darunter „A through-grown earth“, Illeans Vertonung nach Gerard Manley-Hopkins für die Sopranistin Juliet Fraser und das Explore Ensemble.
Den Abschluss der CD bildet „Land’s End“ (2015), das vom Sydney Symphony Orchestra uraufgeführt wurde und für das sich seither Brett Dean mit dem BBC Symphony und dem Adelaide Symphony Orchestra nachdrücklich einsetzt. Das elfminütige Werk ist von der australischen Landschaft inspiriert, in der Illean aufgewachsen ist. Seine Atmosphäre ist der Künstlerin Vija Celmins und ihren seriellen „Neubeschreibungen“ von Fotografien in Graphit, Farbe und Tinte zu verdanken. Hohe, zerbrechliche Streicher glitzern, gedämpfte Blechbläser murmeln, Schlagzeuger berühren kaum ihre Instrumente. Die Ruhe des Stücks eröffnet dem Publikum einen Raum, in dem die Wahrnehmung ebensosehr im Zuhörer selbst geschieht wie in den von Illean geschaffenen Klängen. Dieselbe Landschaft inspirierte 2017 „Januaries“ für Ensemble, das unter anderem vom Philharmonia Orchestra, der Birmingham Contemporary Music Group und der London Sinfonietta aufgeführt wurde.
Am 25. Oktober wird Cédric Tiberghien Lisa Illeans „Sonata in ten parts“ für Klavier in der Londoner Wigmore Hall uraufführen. Das neue Werk von etwa 20 Minuten Dauer ist ein Begleitstück zu Beethovens Diabelli-Variationen. Jeder der zehn Teile ist eine Ausarbeitung von Momenten – oft nur ein oder zwei Takte – in Beethovens Zyklus, aus denen Illean neue Schichten und Muster entwickelt, indem sie disparate Ausgangspunkte zusammenzwingt, um eine nächtliche Atmosphäre zu schaffen. Zu ihren künftigen Projekten gehört eine dritte Fortsetzung der „Tiding“-Reihe für das Ensemble Nikel.
Benjamin Poore (Faber Music)
(Übersetzung: Wolfgang Thein / aus [t]akte 2/2024)