Für die BBC London und für den Norddeutschen Figuralchor hat Charlotte Seither je ein Ensemblewerk für Stimmen komponiert.
Was ist dieses Ich?
Vierundzwanzig Vokalstimmen, im Orchester positioniert, formen Klangschatten zu den Instrumentalstimmen. In ihrer Komposition Language of leaving für die BBC Singers und das BBC Symphony Orchestra stellt Charlotte Seither die Frage nach der körperhaften Qualität eines Klangs, ob vokal oder instrumental, und der Reichweite seiner Identität. Sie verwendet einen Text des Barockdichters Francesco de Lemene, in dem es um einen Übergang, um die Frage nach der Identität geht: „Ich gehe, sterbe. Aber ihr Hoffnungen, was macht ihr: Bleibt oder geht ihr?“ Der Text fragt nach den Gedanken und Visionen des Subjekts, ob diese unabhängig von der körperlichen Existenz vorhanden seien. „Ich finde den Denkansatz modern. Was ist dieses Ich: Ist es meine körperliche Anwesenheit, ist es die Temporalität, in der ich stehe und vergehe, gibt es eine Unabhängigkeit meiner Gedanken von dem, was ich bin, oder ist mein ganzes Ich nur eine Fiktion von mir selber? Das öffnet einen kompositorischen Raum ins Utopische, der mich interessiert.“
Der Stimmklang britischer Chortradition inspirierte Charlotte Seither zu der Konzeption von Language of Leaving. „Gerade die Frauenstimmen der BBC Singers haben etwas sehr Feines, Distinguiertes, gertenhaft Bewegliches, das sich durch Artikulationsfähigkeit, weniger durch Größe und Volumen definiert. Ein Klang, der etwas Instrumentales hat, das man oft in der Alten Musik findet, in dem es nicht um dramatische Exaltation geht, sondern um Reduktion dieser Expressivität. Genau für dieses Stimmideal habe ich das Stück entwickelt.“ Zentraler Gedanke ist das Innenecho, das gleichsam mikroskopisch heraus vergrößert wird, dort wo die Grenze zwischen Vokalität und Instrumentalität verschmilzt. „Die Stimmen sind nicht Äußerung eines Einzelnen, sondern das Orchester wird zu einem utopischen Raum, wo sich die Frage nach Autonomie stellt. Das Orchester wird permanent beatmet, vermenschlicht und bewegt sich in diesem Grenzraum.“ Zugleich erzeugt die Positionierung der zwölf Vokalgruppen im Orchester eine neuartige „Verräumlichung“ des Klangs, denn die Totalverschmelzung bestimmter Stimmen und Instrumente wird zunehmend durch die Beziehung auch zu anderen Klangfarben aufgelöst. Gleichwohl sind Stimmen und Orchester stets in einem gedacht. Indem sie frontal auf der Bühne positioniert sind, ereignet sich alles im Innern des musikalischen Satzes.
Material im Raum
Als Auftragswerk von Deutschlandfunk Köln komponierte Charlotte Seither ein neues Werk für Doppelchor für das 850-jährige Jubiläum des Klosters Loccum nach einem anonymen Text aus dem Buch der 24 Philosophen. In ihrer Komposition für den Kirchenraum Loccums, der durch seinen großen Nachhall gekennzeichnet ist, schreibt sie Techniken der Vokalpolyphonie in ganz eigener Weise fort. „In meinen Stück tauchen zwölf Stimmen immer wieder in eine Einstimmigkeit hinein, die jedoch 12-stimmig polyphon aufgebrochen ist. Es gehen permanent Impulse aus, von denen die Akustik des Raumes angeregt wird, die in der Kompilation jedoch etwas quasi Einstimmiges erzeugen. Die Größe des Kirchenraums wird deutlich gemacht, indem nicht permanent ein voller Chorsatz, sondern wenig Material in den Raum gesetzt wird, kleine Soggetti, die an immer anderen Stellen auftauchen und durch einen stets vorwärtsströmenden Klangfluss der Stimmen weitergereicht werden.“
Der Text aus dem 11. Jahrhundert enthält ein Spiel mit Lichtmetaphern und wird gleichsam polyphon verräumlicht. „Gott ist die Finsternis in der Seele, die zurückbleibt nach allem Licht“ lautet die Antwort eines Anonymus auf die Frage, was Gott sei. „Eine Spiralkonstruktion, die in der Finsternis zugleich die höchste Präsenz von Licht mitdenkt: Das ist ein ungeheuer reizvolles und kompositorisch fruchtbares Gedankenspiel. Diese Dialektik wird nicht zeitlich abgebildet, sondern in der polyphonen Konstruktion“, so Charlotte Seither.
Marie Luise Maintz
(aus [t]akte 1/2013)