Für das Württembergische Kammerorchester Heilbronn hat Charlotte Seither zum Kleist-Jahr 2011 ein Ensemblestück für 20 Streicher und Sopran geschrieben. Diese „Verse für Heinrich von Kleist“ sollen als Klangwerdung der Schönheit der kleistschen Lyrik verstanden werden.
Zwanzig individualisierte Streicherstimmen, zu denen die vokale Linie eines Soprans wie ein weiteres Instrument tritt, verschränkt Charlotte Seither in Schatten und Klarsein, ihrer Komposition für das Württembergische Kammerorchester Heilbronn anlässlich des Kleist-Jahres 2011. Als einen unaufhaltsamen Sog auf einen „Punkt fern am Horizont zu“ beschreibt die Komponistin die Konzeption des 22-minütigen Stücks. Ausgangspunkt war ein suggestives Bild, das als zentrale Aussage in Heinrich von Kleists Schrift Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft steht: „ein einsamer Mittelpunkt im einsamen Kreis …“ (und das als Diktum wiederum von Clemens Brentano stammt). Der Text ist eine Art Betrachtung der Betrachtung, ein Blicken auf den Blick: Caspar David Friedrichs Gemälde Der Mönch am Meer, das 1809 in einer Berliner Ausstellung Aufsehen erregte, stellt eine weite Meereslandschaft dar, in der sich die einzelne Mönchsfigur im Vordergrund fast verliert. Zweihundert Jahre später knüpft Charlotte Seither an das zentrale Motiv von Kleists Bildbeschreibung an und deckt jenen utopischen Kern auf, der weit in unsere Zeit deutet.
„Mich interessierte gedanklich Kleists Möglichkeit der Utopie, jenes Nachdenken über Ich und Welt, das auch in der Formulierung vom ‚einsamen Mittelpunkt’ steckt. In der Komposition wird dieses Modell umgesetzt in eine Art Zoombewegung auf einen imaginären Punkt zu und wieder von ihm weg, ohne dass zu orten wäre, wo dieser Mittelpunkt ist. Eine konstruktive Ergebnislosigkeit steht am Ende.“
Seither komponiert „Verse für Heinrich von Kleist“, keine Vertonung von Texten, sondern ein dem Dichter gewidmetes Klingend-Machen seiner Dichtung. „Als Gesangstexte verwende ich drei kurze Zitate aus Gedichten, die aus dem Kontext genommen werden und jeweils eine Hinwendungsgeste formulieren, die auch ich mit meinem Stück ausdrücken möchte. Bei der Auswahl ging es nicht um den Inhalt, sondern um die Klanglichkeit des Textrhythmus und die Schönheit der Lyrik.“ Ein lang gestreckter musikalischer Satz, in dem die Sopranstimme hoch, meist ohne Vibrato einsetzt, „engelsnah, als käme die Stimme aus dem Nichts, wie eine Wahrheit, die immer schon da war. Auch der Raum, in dem sie nicht singt, ist leicht, unspektakulär, aber immer mit diesem Himmelsbogen versehen“ (Seither).
In der Verschmelzung der Streicher und der Stimme, die über weite Strecken wie ein Horizont in höchster Höhe über dem Satz schwebt, geht es um ein Spiel mit klanglichen Identitäten, „einen Versuch, die Grenzen zwischen vokal und instrumental, Individuum und Umwelt, Utopie und handelndem Subjekt aufzuheben. Man hört einen einzigen ausschwingenden Bogen. Zum Schluss wechselt die Stimme in ein tiefes Register, dort, wo ein Sopran kaum mehr klingen kann und nur noch eine tiefe, weiche, vielfach gebrochene Pianolage hörbar ist, immer weiter reduzierend und ausfädelnd.“ Inspiration für das Formmodell des in einen großen Bogen der Finalität verschmelzenden Ablaufs ist jene utopische Vorstellung der Unbegrenztheit, jenes Sehen ohne Rand, das Kleist als geradezu beängstigenden Eindruck beschreibt. Und wie durch einen Trichter blickt die Komponistin in ihrer Referenz an Kleist heute auf den Dichter, der über den Maler schreibt, der seine Figur auf das Meer blicken lässt, „ein einsamer Mittelpunkt im einsamen Kreis“.
Marie Luise Maintz
aus [t]akte 2/2010