Für die Niederrheinischen Sinfoniker und den Dresdner Kammerchor komponiert Charlotte Seither zwei Werke, die sich mit einer polyphonen Linearität auseinandersetzen.
Wie eine in sich verdrehte Treppe auf den Bildern des MC Escher winden sich Orchesterglissandi in die Tiefe, ohne jemals den Tonraum absinken zu lassen. Diese bewegen sich freilich nur in minimalistischen, abstrakt angedachten Gesten. In der Folge ihrer Komposition Schatten und Klarsein. Verse für Heinrich von Kleist zum Kleist-Jahr 2011 beschäftigt sich Charlotte Seither mit Formabläufen, in denen sich, wie sie sagt, die Prozesse aus sich selbst heraus generieren und einen Sog auf eine Horizontlinie bilden, „in kleinsten Schritten mit unendlichen Nuancen und einem stark aufgespaltenen Tableau von Polyphonie“. In ihrem Orchesterstück für das Festival Ensemblia Mönchengladbach steht eine mitunter haptische Klanglichkeit von tiefen schnarrenden Stimmen im Vordergrund, Posaunenglissandi, Schwebungen von tiefen Bassklarinetten – eine Naturhaftigkeit, die kraftvoll, herb, aber nicht laut ist, und den variablen Klangraum der mittleren Orchesterbesetzung voll ausreizt. Eine Konstruktion, „die ständig in sich selbst versinkt“, eine Form der musikalischen Entwicklung also, die mit „flachen Formmodellen“ experimentiert: „Mich interessiert die Radikalität einer Form, die vollständig in sich ruht, und in der sich alles auseinanderentwickelt, ohne dass die Architektur allzu offensichtliche Stützpunkte setzen müsste.“
Auch Haut terrain für 12-stimmigen Kammerchor, das der Dresdner Kammerchor im Rahmen der Dresdner Chorwerkstatt für Neue Musik im Festspielhaus Hellerau unter der Leitung von Hans-Christoph Rademann im Februar 2011 uraufführte, arbeitet mit dieser utopischen Vorstellung: Eine eng umrissene Horizontlinie des Chors, auf der der gesungene Tonraum auf einen begrenzten Ambitus in hoher Lage reduziert wird, führt die Klanglichkeit auf ein „hohes Terrain“, wie der Titel plastisch verkündet. Zugleich, so Charlotte Seither, meint jene erhabene Horizontlinie eben ein radikales Andersdenken der chorischen Faktur: Die hohen Stimmen sind in einer Art linearer Polyphonie vielfach aufgefächert, indem einzelne Töne durch die Einzelstimmen wandern und damit die an der Vokalkunst der Renaissance geschulten Mezzavoce-Stimmen fordern. Die Männerstimmen bilden zu den hohen Stimmen eine Art geräuschhaften Kontrapunkt mit rhythmisierenden Einwürfen.
Ein fast statisches, meditatives Klangband entsteht, das sich in mikrotonalen Bereichen als Klangfarbenspiel reibt. Eine Art unendlicher Klagelaut in einer ans Italienische angelehnten Kunstsprache evoziert in abstrakt rhetorischen Modellen die hohe Chorkunst, wie sie auch bereits bei Nono und Ligeti entworfen worden ist und komponiert den menschlich anrührenden Tonfall eines klagenden Ewigmenschlichen.
Marie Luise Maintz
aus [t]akte 1/2011