Drei ostdeutsche Städte sind an drei aufeinanderfolgenden Tagen Gastgeber für Uraufführungen von Colin Matthews, Torsten Rasch und Jonathan Harvey.
Einen Blick zurück in Zeit und Welt Beethovens wirft die Grand Barcarolle von Colin Matthews. Sie geht auf die Anregung Riccardo Chaillys zurück, ein Stück zu komponieren, das neben Beethovens 8. Sinfonie erklingen soll. Colin Matthews dazu: „Ich fragte mich, wie es wäre, wenn Beethoven sich nach zweihundert Jahren seine 8. Sinfonie wieder vornähme und merkte, dass er vergessen hatte, einen langsamen Satz zu komponieren. Das soll nicht heißen, dass diese Grand Barcarolle in die Achte eingefügt werden sollte. Jedenfalls fing ich an, indem ich aus Elementen der 8. Sinfonie und der Klaviersonaten op. 81a und op. 101 mein eigenes Beethoven-Pasticcio zusammensetzte. Im Lauf der Arbeit sanken diese Elemente unter die Oberfläche, und es tauchte zu meiner Überraschung ein anderer Komponist auf: Ausgerechnet zu Mahlers einhundertstem Todestag war mein erster Entwurf fertig. So erinnert das Stück passenderweise an einen hundertsten und einen zweihundertsten Gedenktag … Warum aber eine Barcarolle? Vor allem, weil Beethoven selber nie eine geschrieben hat – so gibt es keine Eifersüchteleien. Hätte er eine geschrieben, es wäre sicher eine ,Große Barcarolle‘ dabei herausgekommen.“
Wie das Stück von Matthews die Vergangenheit aus Sicht der Gegenwart betrachtet, vereint die Musik von Torsten Rasch Vergangenheit und Gegenwart auf einzigartige Weise:
„Raschs eigentümlicher Dialog von Vergangenheit und Gegenwart, von Selbst und Anderem lässt aus einer Reise in unterschiedliche Vergangenheiten etwas Neues entstehen. Gleichzeitig erscheint die Vergangenheit in anderem Licht, indem sie sich selbstbewusst ihren Gespenstern stellt.“ (John Fallas)
Genau das geschieht in Wouivres. Die vier Sätze des Werks erinnern an eine traditionelle sinfonische Satzfolge – einleitend, langsam, schnell, zusammenfassend –, doch das harmonische Material gehört einer anderen, eher zyklischen Bewegung an, in der dieselbe harmonische Fortschreitung in unterschiedlichen Zusammenhängen erscheint. Diese allgegenwärtige Fortschreitung, die ihre Spur durch das Stück zieht, ist mit dem Titel Wouivres gemeint, einem keltischen Wort mit mindesten vier Bedeutungen: 1. eine schleichende Schlange, 2. ein Fluss, der sich durch die Landschaft schlängelt, 3. ein unterirdisch sich windender Strom, der Erde und Menschen zugute kommt, und 4. kosmische oder magnetische Ströme, die alles umfassen.
Die Zukunft – kosmisch ebenso wie vom Menschen gemacht – ist Gegenstand des Stücks Weltethos von Jonathan Harvey.
„Wir haben Zukunft: Wir Kinder haben Zukunft, wenn wir immer Menschen bleiben. Menschen mit Vernunft und Herz …“
Der Kehrvers der Kinderstimmen aus der Feder des radikalen Theologen Hans Küng gliedert das Stück. Nach Küng kann der Weltfriede nur durch eine weltumfassende ethische Übereinkunft erreicht werden. Eine solche Ethik existiert bereits seit Jahrtausenden in den größeren Weltkulturen und -religionen; es gelte lediglich, sie zusammenzubringen. Dieser Gedanke steht hinter Weltethos, einem Kompositionsauftrag Hans Küngs. Das Werk gruppiert sich um die ethischen Lehren von sechs religiösen Figuren:
Konfuzius über Humanität / Moses über die Goldene Regel / Hindu-Schriften über Gewaltlosigkeit / Mohammed über Gerechtigkeit / Buddha über Wahrheit / Jesus über Miteinander.
Wie der Text seine Anregungen aus allen Richtungen bezieht, speist sich auch die Musik aus vielen unterschiedlichen Stilen und Kulturen, die Harveys eigenen vielfältigen Werdegang widerspiegeln: Er wuchs als anglikanischer Chorsänger auf, fühlte sich dann aber zu den Religionen des Ostens hingezogen. So vertritt im zweiten Satz die Trompete das jüdische Widderhorn, das Schofar, und Glissandi in den Holzbläsern deuten Klezmer-Musik an. Oder im dritten Satz, in dem die Thematik wechselt zwischen dem Tanz des Hindugottes Nataradscha und dem Yogi-Gesang des Chores. In großer Besetzung – gemischter Chor, Kinderchor und großes Orchester (mit einer breiten Palette exotischen Schlagzeugs) – stellt Weltethos dem mächtigen Text eine Musik von epischer Dimension an die Seite.
fm
(aus [t]akte 2/2011 – Übersetzung: Friedrich Sprondel)