Die Schlagzeuggruppe spielt die Hauptrolle in Hugues Dufourts Orchesterstück „Surgir“, das am 1. Oktober in Köln seine deutsche Erstaufführung erlebte. Sie demonstriert den Geräuschanteil in einem Prozess, der die Dynamik freisetzt, die dem Klang innewohnt.
Am 20. November 2010 wird im Rahmen des Festivals Manca in Nizza das neue Orchesterwerk von Hugues Dufourt uraufgeführt: Voyage par-delà les fleuves et les monts (Reise jenseits der Flüsse und Berge). Und für den 1. Oktober ist in Köln die deutsche Erstaufführung von Surgir, einem orchestralen Meisterwerk von Dufourt aus dem Jahre 1984, geplant. Ein Vierteljahrhundert liegt zwischen diesen beiden Stücken, eine Klangreise, die noch längst nicht abgeschlossen ist und in deren Verlauf der Komponist bedeutende Entdeckungen zu Gehör bringt.
1984 war die musikalische Forschungsarbeit von Dufourt bereits weit fortgeschritten. Er war, zusammen mit Michaël Lévinas und Tristan Murail, Gründer des Ensembles „L’Itinéraire“ in Paris und prägte den Begriff des „Spektralismus“, bei dem die Prozesshaftigkeit und Wahrhaftigkeit des Klangs im Zentrum steht. Es geht um eine definierte Art der Analyse von Klängen und darum, daraus Eigenschaften abzuleiten, die, in Relation zum Umfang eines Stücks, dessen Parameter wie Tonhöhe, Klangfarbe, Dauer und Intensität bestimmen können. Musik soll mehr aus dem Klang selber entstehen denn aus einer Thematik. Zum Zeitpunkt der Entstehung von Surgir gab es bereits ein Werk Dufourts, das für Furore gesorgt hatte: Saturne (Wiederaufnahmen diesen Herbst in Genf sowie beim Festival Milano Musica). Dufourt wies damals – im Jahr 1979 – den Weg hin zu einem Konzept der Verschachtelung von Orchesterklängen und elektronisch erzeugten Klängen.
Der Titel Surgir (plötzliches Auftauchen, Ausbrechen) steht für den musikalischen Vorgang, dem das Publikum beiwohnt: das jähe Aufbrechen des Spektrums. Als Ausgangsmaterial dienen dem Komponisten bestimmte harmonische Konglomerate, die er dann zu spektralen Ausbrüchen führt. Die Gedanken des musikalischen Schaffens konzentrieren sich bei diesem Werk ganz auf den Klangbereich. Vor nicht langer Zeit konnte das deutsche Publikum solche Eruptionen in Dufourts Werk L’Asie d’après Tiepolo wahrnehmen, das 2009 bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik zur Uraufführung kam. Auch da beeinflusst das Schlagzeug in entscheidendem Maße die Art, wie Harmonien entstehen und miteinander in Beziehung treten.
Surgir folgte auf Erewhon (1976) für Schlagzeugensemble, worin in systematischer Weise alle möglichen Kombinationen von Schlagzeugklängen und alle denkbaren Verbindungen von determinierten und nicht determinierten Tonhöhen ausgeschöpft werden. Der ganze Aufwand, den der Komponist im Bereich der Schlaginstrumente geleistet hat, kommt in Surgir zum Tragen, wo dem Schlagzeug innerhalb des Orchesterapparats eine überragende Rolle zugewiesen wird: In der Tat sind in diesem Werk fünf Schlagzeuger und fünf Pauken vorgesehen. Dadurch wird die Wahrnehmung das ganze Stück hindurch entscheidend von den Schlagzeuggruppen geprägt. Sie sind die Geräuschkomponenten des Spektrums: das, was die dem Klang innewohnende Dynamik freisetzt. Analysiert man einen Klang, auch den eines klassischen Instruments, lässt sich feststellen, dass zu diesem Klang auch Geräusche gehören. Das ist eine Erfahrung des Spektralismus, die für die zeitgenössische Musikforschung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von grundlegender Bedeutung war und heute viele junge Komponisten beeinflusst.
„Das konstituierende Element eines Orchesters scheint mir in Zusammenhang mit einer Tradition der Klangenergie zu stehen, in die man nur zurückfinden kann, indem man sie radikalisiert“, schrieb Hugues Dufourt 1984. In der Tat ist Surgir ein radikales Stück, und das titelgebende Verb erscheint wie ein existenzielles Programm und steht für einen brüsken, unerwarteten Vorfall. Für den Komponisten geht es darum, den Einsatz der Instrumente eines Orchesters zu radikalisieren. Jedem einzelnen Instrument kommt eine eigene Rolle zu (in der Partitur werden die Stimmen der Pulte jeweils einzeln notiert). Diese Rolle übernimmt das Instrument gleich am Anfang des Stücks, um sie später wieder aufzugeben – auf eine der Kompositionsabsicht immanente unerwartete Art und Weise eben. Diese Radikalität durchzieht auch weiterhin das Werk des Komponisten. Und diese Haltung unterstreicht die Relevanz von Dufourts Werk über seine Epoche hinaus: Es hat nunmehr zu einer eigenen, individuellen und äußerst kraftvollen Klangidentität gefunden. Es gibt Ausbrüche, die die Welt nicht so zurücklassen, wie sie war.
Benoît Walther
(Übersetzung: Irene Weber-Froboese)
aus [t]akte 2/2010