Der junge schottische Komponist Martin Suckling (* 1981) sorgte 2011 mit Candlebird schlagartig für Furore: Sein Zyklus, der auf Gedichte von Don Paterson für den Bariton Leigh Melrose komponiert und von der London Sinfonietta in Auftrag gegeben worden war, offenbarte dem Publikum einen Künstler, der mit einer neuen, dynamischen und überwältigend selbstsicheren Stimme sprach. Auch Sucklings spätere Werke verbinden durchgängig und in feinster handwerklicher Präzision eine innovative Form von Mikrotonalität und einen geradlinigen und lyrischen kommunikativen Instinkt. Bei Nocturne, ein für Pekka Kuusisto und Peter Gregson geschriebenes Duo für Streicher, handelt es sich um eine verdichtete Studie jener Spektralharmonien, die seine Musik häufig kennzeichnen. Das kühne Konzerteröffnungsstück Release dagegen, das im Jahr 2013 für Ilan Volkovs „Tectonics“ Festival entstand, entfaltet sich als ein lebendiges Schauspiel und umfasst eine atemberaubende Emotionsskala und eine breit gefächerte orchestrale Ausdruckspalette. Führende Orchester haben Sucklings Musik bereits aufgeführt, darunter das London Symphony Orchestra und das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin. Zu den Dirigenten, die seine Werke zur Aufführung brachten, zählen Künstler wie François-Xavier Roth, Robin Ticciati und Pierre-André Valade.
Nach dem Abschluss seiner Studien bei George Benjamin ist Suckling derzeit Associate Composer des Scottish Chamber Orchestra. Vor Kurzem wurde er mit dem gefragten Leverhulme-Preis ausgezeichnet. Seine künftigen Projekte umfassen ein Klavierkonzert für Tom Poster und das SCO, ein großes Orchesterwerk im Auftrag des Sinfonieorchesters der BBC sowie ein Flötenkonzert für das Royal Scottish National Orchestra und das Toronto Symphony Orchestra.
Sucklings Klarinettentrio Visiones (nach Goya) feierte in der Interpretation der Ausnahmekünstler Mark Simpson, Jean-Guihen Queyras und Tamara Stefanovic beim Aldeburgh Festival 2015 seine Uraufführung. Ein düsteres Blatt aus Goyas Serie „Hexen und alte Frauen“ – drei Figuren, die einen unheimlichen, scheinbar schwerelosen Tanz vollführen – gab den Anstoß zu diesem zwölfminütigen Werk. „Ich denke, in diesem Bild zeigen sich einerseits Schönheit und Eleganz, andererseits Beherrschung und süße Melancholie“, bemerkt Suckling. „Ebenso spürt man jedoch auch Besessenheit, Gewalt und Ausweglosigkeit.“
In früheren Werken wie To See the Dark Between für Klavier und Streichsextett erwächst Sucklings Musik aus dem Nachhall eines anfänglichen Klavierimpulses. Visiones dreht diesen Gedanken um. „Die Resonanz ist ein Ergebnis der Musik, noch dazu oft ein sehr destruktives“, erklärt Suckling „Beispielsweise wird dadurch, dass der Pianist auf die höchsten Tasten der Klaviatur einhämmert, eine große Welle aus Weißem Rauschen erzeugt.“ Dieses Weiße Rauschen erlaubt noch einen zusätzlichen Effekt: „Werden die Tasten stumm heruntergedrückt und gleichzeitig das Pedal aufgehoben, entsteht auf diese Weise ein sanfter, andauernder Klang. So kann etwa ein Basston erzeugt werden, ohne dass er tatsächlich angeschlagen wird. In meiner Vorstellung ist ein derartiger Klang nichts weniger als magisch zu nennen.“
Im ersten Teil des Werks dreht das Klavier ekstatische Pirouetten über die kreisenden Stimmen von Violoncello und Klarinette. Dem folgt ein zunehmend mechanisch wirkendes Wiegenlied. Der letzte Abschnitt ist eine verzerrte Erinnerung an das zuvor Vergangene: Der Pianist spielt mit Dämpfer, das Cello intoniert eine verrückte, fragmentarische Virtuosenpartie, die Klarinette wird auf ein einfaches Muster sanfter Multiphonics begrenzt. Der wirre Tanz dringt in das musikalische Geschehen ein und überwältigt es.
„Es handelt sich um ein sehr poetisches Stück“, bemerkte Queyras während der Proben. „Ein französischer Einfluss ist deutlich hörbar. Das Spiel der Intervalle und die Art, wie jedes Instrument sein eigenes Ostinato entwickelt und dabei einen kaleidoskopischen Effekt erzeugt, hat etwas von Grisey.“
Sucklings Psalm für Harfe und drei räumlich getrennte Ensembles erlebte seine Uraufführung im vergangenen November durch das Aurora Orchestra. Es erweist sich als eine Antwort auf das dichterische Werk Paul Celans und die Arbeiten des Künstlers und Schriftstellers Edmund de Waal. Die Erstaufführung fand in der Londoner Royal Academy of Arts statt, wo de Waal eine Ausstellung kuratierte, die sich mit der Farbe Weiß auseinandersetzte. Dreh- und Angelpunkt des gesamten 18-minütigen Stücks ist die Harfe. Sie erzeugt das meiste musikalische Material, welches durch die Ensembles „gebrochen“ wird: weißes Licht, das durch ein Prisma fällt und in tausend verschiedenen Farben sein Echo findet. Celans von Flehen und emotionalen Ausbrüchen bestimmte Dichtung wird durch eine kontemplative Stimmung und wilde Eruptionen nachgeahmt. Mit dem Spiel zweier Bratschen, die an den entgegengesetzten Seiten des Aufführungsraums ihren Platz haben, endet das Werk im Liedhaften – oder in der Erinnerung daran.
Faber Music
(Übersetzung: Felix Werthschulte)
(aus [t]akte 1/2016)