Beat Furrers Oper la bianca notte / die helle nacht geht von der Figur des italienischen Dichters Dino Campana aus, der schrieb um zu (über-)leben. Aus der Szene des Futurismus schlägt der Komponist eine Brücke in die Gegenwart.
„Vivo in uno stato di suggestione“ – „Ich lebe in einem Zustand der Suggestion“ –, sagt die Hauptfigur von Beat Furrers Oper la bianca notte / die helle nacht nach Dino Campana am Schluss des Werks. Dino erzählt, um zu existieren, er dichtet, erfindet, schreibt. „Erzählen erzeugt Identität“ ist das Thema seiner Oper, so Beat Furrer, die „Krise der industriellen Gesellschaft, die Krise der Identität“. Die Oper erzählt sie anhand einer historischen Figur und ihrer Zeitgeschichte: des italienischen Dichters Dino Campana und der Moderne am Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Zeit, die in der Oper aufscheint, ist der Übergang von der Zäsur- und Fortschrittseuphorie, des Futurismus zur Katastrophe des Kriegs, jene „große Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte, und in der geschehen muß, was man sich nicht mehr vorstellen kann“, wie Karl Kraus 1914 schreibt.
Beat Furrer komponiert dezidiert keine historische Oper, betreibt keine biografische Dokumentation, und sein Werk ist auch kein Künstlerdrama. Vielmehr wird die Dichtung Campanas in ihrer besonderen Qualität zum Ausgangspunkt des Werks, genauer: seine Konzeption einer Aufhebung der Zeit und seine Gestaltung von Zeit – das Spielen mit Geschwindigkeit, mit Rhythmen, mit einer Energie und Kraft, die an das Futuristische Manifest denken lassen. Dino Campana, so sagt Beat Furrer, „war wahrscheinlich der einzige der italienischen Schriftsteller seiner Zeit, der die neuen futuristischen Ideen mit einer großen poetischen Kraft und einer starken Verbindung zur Vergangenheit der italienischen und französischen Literatur zum Leben zu erwecken imstande war. Seine Dichtung hat die Moden ihrer Zeit überlebt.“
Beat Furrer: „Der Protagonist Dino erzählt, um seine eigene Existenz, seine Identität, sein Ich zu beschwören. Er beschwört die Identität, indem er Gegenrealitäten schafft. Dino Edison erhellt die Nacht, indem er Geschichten erfindet. Er erfindet seinen Widerpart, die mephistophelische Figur des Regolo, den Verführer mit der Sucht nach Neuem als Dämon im Herzen, er erfindet Russo, sein Spiegelbild, das manisch schreibt und dabei glaubt, damit Menschen retten zu können. Sibilla ist eine Figur aus der Welt der Futuristenszene, erfolgreiche Schreiberin einer provokanten autobiografischen Erzählung, Una donna, larmoyant und exzentrisch. Diese Welten Dinos und Sibillas können nicht mehr synchronisiert werden. Die Wahrsagerin Indovina vertritt Dinos Sehnsuchtsort, ist die Quelle von dessen schöpferischer Kraft.“
Dino Campanas Dichtung ist Textgrundlage des Librettos, zudem Briefe und dokumentarisches Material. Der historische Campana fiktionalisierte sich in seinem quasi autobiografischen Werk, sein Leben und sein Scheitern verlief übrigens in seinen Zäsuren auffallend parallel zu Ereignissen der Weltgeschichte: 1914 erschienen im Selbstverlag seine Canti orfici. Den ursprünglichen Titel „Il più lungo giorno“ (Der längste Tag), mag man als Anknüpfungspunkt für eine literarische Erzählform verstehen, die ihresgleichen sucht. Gedicht, tagebuchartige Erzählung, Notiz, Novelle, Aphorismus, Glosse vermischen sich zu einer autobiografischen Fiktion einer Figur, die als Wanderer, Beobachter, Reisender ein eindringliches Bild ihrer Welt zeichnet, in einer dichterischen Sprache von höchster poetischer Kraft und Stilhöhe.
Dino Campana war Vagabund, Landstreicher, Weltenbummler, der bis nach Südamerika gelangte. Nach Jahren der Unruhe und der literarischen Aktivität fand er Kontakt zu den Künstlerkreisen und den Futuristen um Marinetti, spukte als streitbarer Geist durch die Literatenzirkel und suchte vergeblich nach einer Existenzform, die ihm das Schreiben und Publizieren ermöglicht. Er scheiterte letztlich: 1918 wurde er in die Anstalt von Castel Pulci eingeliefert und blieb dort bis zu seinem Tod 1932, also 14 Jahre. Sein „Fall“ wurde 1938 in einer Publikation des Psychiaters Carlo Pariani beschrieben. Aus Gesprächen, die er in seinen letzten Lebensjahren führte, vermittelt der Arzt das Bild eines wahnsinnigen Dichters, der glaubt, die Geschicke der Welt mittels telegrafischer Strömungen zu steuern.
Beat Furrer: „Was mich fasziniert hat und zu einer anderen Form der Erzählung geführt hat, ist Campanas Vorstellung einer komprimierten Erzählung, die Vorstellung der Zeitschnitte. Bei ihm ist eine fast mythologische Zeitlosigkeit wichtig, die in einem dialektischen Verhältnis steht zu einer rastlos rasenden Erzählung. Das hat mich auf eine Form der Narration gebracht, die mit diesen Schnitten arbeitet, vor allem in den Ensembles, ein Ineinander von verschiedenen Klanglichkeiten, die den jeweiligen Figuren ihren ganz eigenen Raum geben … Figuren, die sich von Anfang an zu einem Ende entwickeln.“
In mehrfacher Hinsicht ist die Oper ein Gegenstück zu Beat Furrers Musiktheater Wüstenbuch, das ausgehend vom Sinnbild der Wüste die Abwesenheit einer Geschichte suggerierte. la bianca notte / die helle nacht lässt nun das Geschick einer Figur in verschiedenen Zeitschichten, in Verdichtungen und Überlagerungen aufscheinen. Die Oper erzählt von einem doppelt Ausgeschlossenen, dem die Anerkennung in der Gesellschaft und seiner Kunst, schließlich auch in der Liebe versagt bleibt. Sie beschreibt ein Fremdwerden, einen Verlust von Heimat, einer Ordnung der Welt. Sie erzählt das Scheitern dieser Figur, die sich verliert und in einer anonymen Masse aufgeht. Doch lässt sie immer wieder jene Utopie aufscheinen, für die in der Dichtung berückende Bilder gefunden werden, die Quelle der Sehnsucht und des schöpferischen Strebens sind und mithin die Grundlage seiner Existenz. Die Utopie, das Glück jedoch reduziert sich schließlich auf die vermeintliche Suggestion. Die letzte Szene zeigt Dino, scheinbar glücklich, aber nicht mehr imstande, sein künstlerisches Ich zu behaupten:
„Ich heiße Dino. Ich bin eine telegrafische Station. Ich bin äußerst zufrieden, denn ich schaffe die ganze Ordnung der Welt. Ich lebe nicht. Ich lebe in einem Zustand fortwährender Suggestion.“
Marie Luise Maintz
(aus [t]akte 1/2015)