Wo Realität und Fiktion sich überlagern, wird Kunst zum lebensbedrohenden Handeln. Der römische Kaiser Nero steht für Clemens Gadenstätter als Vorbild für die Menschen in unserer vernetzten Welt.
Er ist Olympionike und Kaiser, Richter und Mörder, Brandstifter und Architekt. Er ist eine Skulptur und ein Bildhauer, ein Sänger und sein Publikum, ein Aussteller und das Objekt seiner Ausstellung selbst. In seiner tyrannischen Allmacht durchkreuzte der römische Kaiser Nero immer wieder die Grenzen zwischen Betrachter und Darsteller, zwischen Darstellung und Dargestelltem. Hätte es eines Beweises bedurft, dass ästhetisches Handeln reale Effekte zeitigt, mit der Asche der unter Neros Jubelrufen und Gesängen brennenden Stadt Rom und mit dem Blut der unterlegenen Wettbewerber im Kampf um die Sängerkrone wäre er erbracht. Die Vita des Nero ist ein Ausweis für die Katastrophen, die aus der Vermischung von sozialen, realen und imaginären Räumen resultieren.
Was vor 2000 Jahren nur einem Kaiser möglich war, gehört längst zur Alltagserfahrung des modernen Menschen: Gleichzeitig in unterschiedlichen sozialen Räumen beheimatet zu sein und unterschiedliche Funktionen in einer vernetzten Welt voller realer Fiktionen zu erfüllen, in deren Polyphonie von Räumen immer weniger unterscheidbar wird, wo Schein und Sein ineinander übergehen.
Seine obsessive Durchleuchtung der semantischen Qualitäten von Musik will Clemens Gadenstätter in seinem Bühnenstück Nerone auf das Musiktheater ausdehnen. Als „Ring an einem Abend“ konzipiert – mit vier dramatischen „Knoten“ – setzt es das Publikum der Unberechenbarkeit des Tyrannen aus. Es wird von ihm zugleich beherrscht und zum Mitspieler erklärt, er lädt es ein in sein „domus aurea“ und liefert es den Unwägbarkeiten seiner Inszenierung aus. Auch für die Musiker des Ensemble Modern, für die Clemens Gadenstätter sein Bühnenstück konzipiert, wird Nerone zu einem lebensgefährlichen Spiel: Wenn sie sich in den Zweikampf mit einer Musikmaschine begeben, die – wie Nero – im Vorhinein als Sieger feststeht, wird das herkömmliche „Konzertieren“ zum Akt der Vergeblichkeit, heilige Rituale verwandeln sich in Harlekinaden. „Ein Stoff, der Theater im Theater ist“, so Clemens Gadenstätter, „und gleichzeitig Realität, erschreckende Realität auch unserer heutigen Welt.“
Patrik Hahn
(aus [t]akte 1/2012)