Beim Lucerne Festival 2012 wurde Matthias Pintschers Chute d’Étoiles. Hommage à Anselm Kiefer für zwei Trompeten und Orchester als Auftragswerk der Roche Commissions durch das Cleveland Orchestra unter Leitung von Franz Welser-Möst uraufgeführt.
Ein Eklat, Zusammenbruch, Infarkt steht am Beginn von Matthias Pintschers Chute d’Étoiles. Hommage à Anselm Kiefer für zwei Trompeten und Orchester. Die Orchesterkomposition setzt an mit einem metallischen Aufschrei eines massiven Klangkörpers. Ihr Titel bezieht sich auf Anselm Kiefers gleichnamige, monumentale Installation im Pariser Grand Palais im Jahr 2007 und tritt mit ihr in einen komplexen gedanklichen Austausch ein, korrespondiert in Wucht und Dramatik. Das Orchesterstück ist nicht nur eine Hommage an den Künstler und sein Werk, in ihm fließen Motive und Material aus Pintschers Arbeit der letzten Jahre zusammen. Kiefers Bild vom „Sternenfall“, die Vorstellung, dass die Welt aus einer Explosion geboren ist, vereint Zerstörung und Schöpfung. Die Kreation liegt im Akt der Auslöschung, ein Zustand bricht zusammen und gebiert einen neuen. „Wir werden geboren und wissen nicht, warum. Und wenn man sich nicht festhält, wenn der Kosmos einem nicht hilft, ist man verloren. Wir kommen von dort! Wir sind mit der ersten Explosion geboren. Wir bestehen aus Elementen des Kosmos. Und so tragen wir das unendlich Große genauso in uns wie das unendlich Kleine. Es ist der Mikrokosmos und der Makrokosmos. Darein versetze ich mich und dann versuche ich das, was ich fühle, mit meinen Mitteln auszudrücken." (Anselm Kiefer)
Matthias Pintscher ist seit Langem ein Bewunderer des Künstlers, seines Werks und seiner stringenten Entwicklung. „Er ist einer der wenigen, bei denen man schon in den frühesten Arbeiten genau jene Aura und Archaik sieht, die er bis heute verfeinert hat. Es gibt ein Idiom von Kraft und Klarheit, das er über vierzig Jahre weiterentwickelt hat. Ich finde es sehr spannend, bei einem Künstler eine solche Konsequenz in der Arbeit zu sehen.“ Pintschers Chute d’Étoiles ist eine Hommage an Kiefer und zugleich eine Übersetzung der von dem Künstler dargestellten Apokalypse, des Zusammenbruchs von Welt und Weltbildern, in das Medium des Klanges.
Ausgangspunkt für Pintschers Orchesterkomposition „waren der Klang und die Aura der gesamten Installation: ein inspiratives Moment, das mir ermöglicht hat, die Wucht der Klänge weiterzudenken, die ich zuvor entwickelt habe. Das Material wird gleichsam in Blei geschmolzen: Das Einsetzen der Solotrompeten ist wie das Öffnen von zwei Ventilen eines riesigen Instrumentes aus Blei, das sich Luft verschafft, in sehr ziselierter und konziser Form.“ Janusgesichtig gebiert der Orchesterklang eine atmende Stimme, die jedoch nicht als ein Individuum auftritt, sondern sich in zwei Gestalten artikuliert. Die Trompetenstimme wird aufgefaltet: Ein Instrument spielt in zwei Richtungen. Dies geht zurück auf ein Vorgehen, das Pintscher vor 15 Jahren in Janusgesicht vollzogen hat: „Es gibt kein virtuoses Ringen der beiden, sondern sie befeuern sich gegenseitig, sie vertreten die gleiche Haltung, spielen das gleiche Repertoire von Klängen und Techniken, eine Stimme wird zweifach aufgefächert.“ Auch Orchester und Solisten treten nicht in einen konzertierenden Dialog, vielmehr sind die Trompeten „wie Auswucherungen, sie sind angeschmolzen an diesen Orchesterklang. Sie setzen in konzentrierter Form das Aggregat dieses Bleiorchesters frei und führen es in verschiedene Zustände, sobald sie diesen Orchesterraum verlassen.“
Die Weichheit und Schwere des Bleis, das Kiefer in seinen Arbeiten verwendet, bildet einen inspirierenden Ausgangspunkt: „Ich finde den ‚Klang’ von Blei der Kiefers Arbeiten unglaublich faszinierend. Diese Kraft, die in diesem Material gebannt ist! Es ist flexibel, formbar, aber unglaublich schwer. Diesen Aggregatzustand in der Verbindung von Weichheit und Schwere finde ich spannend: ihn versuche ich, in dieser Musik hörbar zu machen.“
Formal beschreibt die Orchesterkomposition keine herkömmliche dramatische Entwicklung. Pintscher schafft eine Skulptur, ein eruptives Klangobjekt, das die Ereignisse aus dem Ausbruch des Beginns hervortreibt. Dabei „spiegelt der Schluss den Anfang. Aus der Wucht des Eklats lösen sich einzelne Partikel, die dann in einen konzentrierten Modus geführt, verwandelt, durchgeführt werden und zum Schluss quasi wieder in sich zurückfinden. Die Trompetenlinien sind am Schluss jedoch nicht vereinzelt, sondern in einer hohen Attacke auf die Spitze des Klangs gesetzt, am höchsten Punkt bricht das Ganze dann ab.“
Matthias Pintscher lässt in Chute d’Étoiles Motive, Gedanken und Techniken kulminieren, die in seinen vorangegangenen Werken präsent waren: Auch im dritten Teil, occultation, seines Triptychons Sonic eclipse praktizierte er das Übereinanderlegen des gesamten musikalischen Materials. Bezüge und Konnotationen zur Sternenthematik sind evident, ebenso wie in Osiris für Orchester und Bereshit für Ensemble. Alle thematisieren Mythen von Schöpfung und Zerstörung, Entstehen und Auslöschung: Die neue Orchesterkomposition ist letztlich eine Weiterentwicklung jener Gedanken in einen neuen, im wörtlichen Sinne spektakulären Zusammenhang.
Marie Luise Maintz
(für [t]akte 2/2012)