Ganz anders als sein erstes Cellokonzert legt Matthias Pintscher sein zweites Un despertar für Alisa Weilerstein an: weich, lyrisch, intim und durchsichtig.
Für Alisa Weilerstein schreibt Matthias Pintscher ein neues Cellokonzert, Un despertar for violoncello and orchestra. Ein dunkles, warmes Singen einer männlichen menschlichen Stimme nennt Pintscher den Ausgangspunkt für die klangliche Qualität des Werks. Aus einem „kontinuierlichen langsamen, weichen, zarten und intimen Gesang im unteren Bereich des Cellos“ erwächst eine ganz eigene Virtuosität. „Ich wollte das Bedürfnis, das ich im Violinkonzert Mar’eh schon thematisiert habe, das Aussingen von Phrasen, das Abschreiten von Strecken, Ausbreiten von Horizonten, also das Horizontale und nicht das Vertikale weiter ausbauen.“ Eine der Inspirationsquellen für dieses Klangbild bildet Alisa Weilerstein, „dieses unglaublich lyrische dunkle Gold, das sie in ihrem Spiel hat“. Gegenüber seinem früheren Cellokonzert Reflections on Narcissus, das den Instrumentalton in höchste Höhen treibt, „wahnsinnig aufgeheizt und schnell und hysterisch“, entsteht nun ein Stück „quasi aus dem Schattenklang“. Jene Grundsituation des dunklen Singens, das den Mittelbereich und auch den tiefen Bereich des Cellos untersucht, prägt entscheidend auch den Orchestersatz, der lyrisch, sehr zart und durchsichtig gezeichnet ist.
An ein Gedicht von Octavio Paz, „Un despertar“ (Ein Erwachen), lehnt sich der Titel des Werks an, und die Atmosphäre dieses Textes aus dem Jahr 1966 bestimmt seine Grundsituation: „Wie dieser alte Mann am Fenster steht und in sein verschneites Leben hinausschaut, in die Stille des feinen Schnees, sein ganzes Leben hinterfragend, das ist ein emotionaler Zustand, der mich inspiriert hat“, so Matthias Pintscher, „ein Zustand des Erwachens und der Selbsterkenntnis“. Auch hier führt der Komponist gedankliche Motive aus seinen vorigen Werken wie dem Ensemblewerk bereshit fort: das Erwachen und der Beginn des allmählichen Erkennens, der Verletzbarkeit in dieser Situation, „wo man mit Erfahrung und Zeit zunehmend mehr erkennt, Erinnerungen spürt, die dann Bilder und Aussagen formen. Auch das ist ein Thema: aus einer vagen Kontur in klarere Konturen zu gehen“. Die einsätzige Komposition wird von zwei großen kontrastierenden Blöcken in Zäsuren geteilt, „doch geht es immer wieder zurück in diesen Urzustand des dunklen Singens, als ob das Cello wie eine menschliche Stimme gebraucht würde“. Letztlich vernetzen sich mit diesem neuen Konzertwerk für ein tiefes Streichinstrument ästhetische Ansätze, die auch in en sourdine und schließlich Mar’eh für Violine sowie in tenebrae für skordierte Viola und Ensemble walten, die um die Linearität, die Utopie des Gesangs kreisen, und auch die gedämpften Schattenwelten erkunden.
Marie Luise Maintz
(aus: [t]akte 2/2015)