In seiner Poppea e Nerone, einer Bearbeitung von Monteverdis L‘Incoronazione di Poppea, schöpft Philippe Boesmans die Möglichkeiten zeitgenössischer Musik aus. Mit weiteren Werken demonstriert der Belgier, dass er auf der Höhe seines Schaffens steht.
Diese 2012 uraufgeführte Bearbeitung von Claudio Monteverdis L’Incoronazione di Poppea ist Neukomposition und altes Meisterwerk zugleich. Der belgische Komponist Philippe Boesmans (* 1936), seit zwanzig Jahren mit Bühnenwerken erfolgreich (Reigen; Wintermärchen; Julie; Yvonne, princesse de Bourgogne), deutet mit dieser Orchestrierung Monteverdis Oper auf seine Weise. Deren Manuskript ist verschollen, und in den beiden Kopien aus dem Jahre 1650 fehlen die Instrumentalstimmen – wie so häufig bei Werken der Alten Musik.
Boesmans gibt seinem Werk einen eigenen Titel – Poppea e Nerone – und setzt es dadurch von einer dem Original möglichst nahe kommenden Rekonstruktion ab. Er beschäftigt sich nicht zum ersten Mal mit dieser Monteverdi-Oper: Bereits 1988 schuf er für das Brüsseler Théâtre Royal de La Monnaie eine erste Instrumentierung. Es handelt sich also um ein über viele Jahre gereiftes Werk, das nun als französische Erstaufführung in der Inszenierung von Krzysztof Warlikowski in Montpellier an einem Ort gespielt wird, der den Namen eines anderen wagemutigen Komponisten trägt: Opéra Berlioz.
Nach Boesmans‘ Worten handelt es sich um eine „restitution et orchestration“ von Monteverdis Werk. Er sieht ein Orchester von dreißig Musikern vor. Mit Ausnahme der jeweils zweifach besetzten Flöten und Hörner spielen alle Bläser solistisch – Boesmans erscheint hier als Nachfolger des neoklassizistischen Strawinsky. Die Streicher sind zwei- oder dreifach besetzt. Ausgiebig verwendet Boesmans Tasten- und Schlaginstrumente: Cembalo oder Orgelpositiv, Klavier, Celesta, Glockenspiel oder Harmonium und Synthesizer; er sieht drei Schlagzeuger für Vibraphon und Marimbaphon und Metallophone bestimmter und unbestimmter Tonhöhe (Crotales, Tamtam) vor. Das ist die Hauptcharakteristik dieses Werks: Als Komponist unserer Zeit schöpft Boesmans alle klanglichen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts aus und schafft beispiellose funkelnde und schillernde Klänge.
Alles Schöne ist einzigartig
Das große Interesse an Schlag- und Tasteninstrumenten schlug sich auch in zwei 2010 uraufgeführten Werken Boesmans‘ nieder: dem Stück für Ensemble Chambres d’à côté und seinem Capriccio, einem Konzert für zwei Klaviere. In Chambres d’à côté hat das Klavier anfangs eine führende Funktion, die dann organisch an Celesta, Vibraphon und Marimbaphon übergeht. Capriccio wurde für die Labèque-Schwestern geschrieben, und schon aus dem Titel geht hervor, um welch wundersames Glanzstück es sich bei diesem Doppelkonzert handelt – wahrlich eine Entdeckung! Auch frühere Werke gehören in diese Kategorie: Fanfare I für zwei Klaviere sowie Fanfare II für Orgel (1972); Sur Mi für zwei Klaviere, elektrische Orgel und Schlagwerk (1974); Ring für elektronische Orgel und Ensemble (1975); Elément / Extension für Klavier und Orchester (1976); Doublures für Klavier, Harfe, Schlagzeug und Ensemble (1977); Cadenza für Klavier solo (1978); das Konzert für Klavier und Orchester (1978); Multiples für zwei Klaviere und Ensemble (1978). All diesen Kompositionen ist ein von Perkussion und Resonanzen geprägtes und insofern in der Nachfolge von Bartóks und Ravels Klavierwerken stehendes Klangbild gemeinsam, das Boesmans‘ Ton- sprache beherrschte, bevor er sich der Bühne und damit den Singstimmen zuwandte (seine erste Oper, La Passion de Gilles, entstand 1983). Boesmans‘ neue Oper, deren Uraufführung für das kommende Jahr geplant ist, fällt in einen Moment vollendeter künstlerischer Reife und wird Ausdruck der Summe von all dem sein, was ihn als außergewöhnlichen Komponisten ausmacht.
François Cheng, Mitglied der Académie française, betitelt seine kunsthistorische Abhandlung über die „exzentrischen“ chinesischen Maler mit Toute beauté est singulière: Aus dieser Sicht manifestiert sich Schönheit am stärksten über ihre Eigentümlichkeit. Und Philippe Boesmans‘ mitreißender Stil zeigt uns das in der Musik auf.
Benoît Walther
(Übersetzung: Irene Weber-Froboese)
(aus [t]akte 1/2013)