Mit den „Chants de Maldoror“ schuf Isidore Ducasse alias Lautréamont eine Figur des absolut Bösen. Ins Zentrum seiner Oper MALDOROR für die Münchner Biennale stellt Philipp Maintz den Konflikt zwischen dem Dichter und dem von ihm selbst geschaffenen Ungeheuer.
„Seine Seele brannte. Er entdeckte die Hölle in uns, die Hölle, die wir sind, die Hölle der Existentialisten. Vor ihm war die Hölle der Literaten eine außermenschlich unterweltlich lokalisierte Bühne, aus Kulissen des Schreckens errichtet. (…) Lautréamonts Hölle war nicht hypothetisch, sie brauchte die Kulisse nicht, sie war sein Sein, sein Leben und war der uferlose Ozean seines Denkens und seiner Wortmächtigkeit“ (Wolfgang Koeppen). Isidore Ducasse, der 1846 in Montevideo geboren wurde und als Siebzehnjähriger nach Paris kam, gilt als „Großvater des Surrealismus“. Völlig abgeschnitten vom öffentlichen literarischen Leben schuf der junge Mann unter dem Pseudonym Lautréamont fünf Jahre lang seine Chants de Maldoror, einen Roman oszillierender Bilderfülle, deren groteske Gedankenwelt ihresgleichen sucht, und die vom Haiweibchen, mit dem Maldoror kopuliert, bis zum Haar Gottes reicht, das in einem Bordell gefunden wird. Dem Autor brachten sie erst im 20. Jahrhundert Ruhm, als „schwarzer, zerschmetterter Erzengel von unsagbarer Schönheit“ (Maurice Maeterlinck).
„Für mich war von Anfang an klar, dass diese Oper ein hoch artifizielles Gebilde sein muss und eine gewisse Hermetik hat. Bei der Arbeit an der Musik herrschte in meiner Empfindung eine kühl bläuliche Farbe vor. Es lag natürlich ein großer Reiz darin, eine Form für die Inhalte zu finden, die eine kaum zu überbietende Brutalität haben, aber sprachlich unglaublich elegant daherkommen. Das war in meiner Vorstellung nur in einem abstrakt-artifiziellen Rahmen möglich“ (Philipp Maintz).
Wie lässt sich ein Stoff, der in überbordender Bilderfülle Grässliches, Abstoßendes schildert, auf die Bühne bringen, noch zudem in der „schönen“ Kunstform Oper?
Das Böse auf der Bühne
Philipp Maintz und sein Librettist Thomas Fiedler schaffen eine spannungsreiche Konstellation: Der Dichter Lautréamont (der ja wiederum eine Erfindung von Ducasse ist) gebiert mit Maldoror eine Figur, die das absolut Böse verkörpert. Maldoror trägt Züge von Mephisto, Erlkönig oder anderen Gestalten, die als Dämonen, Verführer, Zerstörer in der Literatur existieren. Lautréamont wird von seiner Figur zunehmend vereinnahmt und schließlich zerstört. In dem Moment, wo er sich von Maldoror befreien will, bringt dieser ihn um.
Eine erzählende Instanz ist in den Maldoror-Gesängen vorhanden, die Fiedler und Maintz in einer „voix de soprano“ personifizieren. Sie schwebt in ihrer Vorstellung „auf einer Schaukel, wie auf einem Gemälde von Hieronymus Bosch, über der Szenerie“ und kommentiert letztlich innerlich unbeteiligt die Handlung. Sie ist es auch, die jenen zentralen Ozeangesang formuliert, in dem das Geschehen vorgezeichnet wird: Der Ozean als abgründige ewige Instanz wird der menschlichen Natur entgegengesetzt. Das Bild von zwei Liebenden, die sich aufgrund einer Nichtigkeit entzweien, nimmt das Spiel von Anziehung und Abstoßung zwischen Lautréamont und Maldoror vorweg. „Der Ozeangesang ist die Trägerschicht, wie der Urschlamm, aus dem die Figuren entsteigen“, so der Librettist Thomas Fiedler. Der Haupthandlung setzt er in Binnenszenen die Erzählung von einer Familie entgegen, an der das Böse sich exemplifiziert: Ein Kind im Tuilerien-Park wird von Maldoror erst heimgesucht und zu Hause schließlich – unbemerkt von seinen ins Gebet versunkenen Eltern – umgebracht. „In dieser Handlung wird das dem ganzen Stoff zugrundeliegende Thema der Moralität, das in letzter Konsequenz auf die Frage nach der Theodizee zielt, anhand einer Erzählung verdeutlicht, die in höchst empfindlicher Weise die Begegnung mit dem Bösen schildert. Es gibt kaum ein größeres Verbrechen als das an der Unschuld eines Kindes“ (Thomas Fiedler).
Klare Zeichen
Die Oper begegnet der Bilderfülle und offenen Gestaltung des Romans mit einer stringent konzipierten Form und nachvollziehbaren Geschichte. Auch die musikalische Gestaltung zielt auf klare Zeichnung. Nachdem das erste Bild dem Entstehen der Doppelfigur Lautréamont/Maldoror gewidmet ist, illustrieren die Bilder 3 und 5 das Ineinander von Faszination und Machtkampf der beiden Figuren, das im siebten und letzten Bild im Mord an Lautréamont gipfelt. Diese Bilder sind musikalisch auf Klangsinnlichkeit und Fülle angelegt, im Untergrund des Orchesters bildet sich die Weite und Tiefe des Ozeans ab. Lautréamonts Partie beginnt gesprochen. „Gesprochenes hat in der Oper den Ton des Unberührten. Lautréamonts Rolle geht erst allmählich in Gesang über, in dem Maße, wie er in seine Geschichte selbst einsteigt, Teil der Welt wird, die er geschaffen hat, und die sich in den Wahnsinn hineinschraubt. Auch die Partie des Kindes ist fast ausschließlich gesprochen“ (Maintz).
Die Binnenerzählung von der heimgesuchten Familie, die Philipp Maintz sich „klaustrophobisch, wie eine Idylle im Goldrahmen“ vorstellt, ist kammermusikalisch gehalten, Bild 4 beginnt gar a cappella, bis sich Maldoror dem Kind nähert. Ebenso bewegen sich die Stimmen der Eltern in einem engen Rahmen, sind formelhaft, fast gespenstisch eng. Die einzige Gesangsstelle des Kindes ist von perfider Doppelbödigkeit. Es singt in aller Unschuld das Kinderlied von der Alouette, der Lerche, deren Kopf, Federn, Schnabel ausgerupft werden.
All das wird von den Kommentaren der „voix de soprano“ begleitet, einer extremen Partie bis zum dreigestrichen Fis, die jedoch „unaufgeregt, immer elegant singt, sich nicht aus der Ruhe bringen lässt“. Die Stimme bleibt, der Dichter stirbt, die literarische Figur des Bösen überdauert – anspielungsreich greift der offene Schluss das rätselhafte Ende des tatsächlichen Dichters Ducasse auf, der 1876 tot in seinem Zimmer aufgefunden wurde. Er hatte, im Anschluss an sein Werk über das Böse, eine Dichtung über das Gute begonnen, in dem „die Schwermut durch den Mut, der Zweifel durch die Gewissheit, die Verzweiflung durch die Hoffnung, die Bosheit durch das Gute, die Klagen durch die Pflicht, die Skepsis durch den Glauben, die Sophismen durch kühlen Gleichmut und der Hochmut durch die Bescheidenheit“ ersetzt werden sollte. Irgendwann im 20. Jahrhundert tauchte dann die Theorie auf, der Dichter sei von seiner Figur getötet worden. „Und von Lautréamont ist“, wie Fiedler ausführt, „ja tatsächlich genau dies übrig geblieben: Seine Figur des Maldoror, die zeigt, dass das Gute unmöglich ist.“
Marie Luise Maintz
(aus [t]akte 1/2010)
Philipp Maintz
MALDOROR. Opéra en sept tableaux d'après "les chants de maldoror"
Uraufführung: 27.4.2010 München (Biennale für Neues Musiktheater)
Sinfonieorchester Aachen, Musikal. Leitung: Marcus R. Bosch, Inszenierung: Georges Delnon
Weitere Aufführungen: 29. und 30.4.2010; Theater Aachen: 8., 11., 15., 23., 27., 30.5.2010; Theater Basel: Premiere: 14.10.2010
Personen: La voix de soprano (Sopran), Maldoror (Bariton), Lautréamont (Bass-Bariton), La mère (Mezzosopran), Le père (Tenor), L’enfant (Kinderstimme)
Orchester: 2 (2 Picc), 2 (Eh), 2 BKlar, 2 (Kfag) – 2,2,2 (TPos, BPos),1 – Schlg (3) – Hfe – Klav (Flügel) – Str
Verlag: Bärenreiter, Aufführungsmaterial leihweise