„Thomas Daniel Schlee ist ein offener Geist und ein kultivierter Mann. Er liebt die Musik leidenschaftlich. Er ist ein hervorragender Organist und ein außerordentlich begabter Komponist. Seine Werke zeugen von einem hohen geistigen Streben und einer echten Originalität hinsichtlich der ‚écriture’ und der Klangfarben.“ Dieses fulminante Zeugnis stellte Olivier Messiaen seinem ehemaligen Schüler Thomas Daniel Schlee aus. Anlässlich seines 60. Geburtstags am 26. Oktober hat Schlee, der auf ein äußerst facettenreiches Wirken als Komponist, Organist, Musikwissenschaftler und Kulturmanager blicken kann, für „[t]akte“ einige Fragen von Michael Töpel über seine kompositorische Arbeit beantwortet. Seine brillanten Antworten dokumentieren, dass Messiaen mit der frühen Würdigung auch den heutigen Jubilar absolut zutreffend charakterisiert.
[t]akte: Dem manuellen Vorgang des Notierens geht der kreative Prozess des Erfindens voraus – mitunter mag sich beides beinahe parallel entwickeln. Die zeitliche Diskrepanz zwischen dem Schreib- und dem Aufführungstempo ist eines der Charakteristika des Metiers. Über Ihre kompositorische Arbeit haben Sie etwas sehr Positives mitgeteilt: „Ich schreibe nur für mein eigenes Vergnügen.“ Bemerkenswert ist, dass „Vergnügen“ als Antonym von „Arbeit“ gilt. Was genau bereitet Ihnen dieses Vergnügen?
Thomas Daniel Schlee: Eben die Arbeit erzeugt das Vergnügen. „Quelle ivresse“, rief Jean Françaix angesichts des dem schöpferischen Künstler gegebenen Privilegs aus, ein leeres Blatt beschreiben zu dürfen. Und dieses Vergnügen erneuert sich beim Komponieren mit und in jeder Note, die dem entstehenden Werk zuwächst. Gewiss ist dies oftmals eine süße Qual, denn wer möchte die Entscheidungen zählen, die nötig sind, um zum „telos“ des Werkes zu gelangen, wie Paul Hofhaimer an die letzten Takte seiner Kompositionen notierte – doch verleiht gerade jenes Ringen in intimster Stille unserem Dasein die Qualität einer über uns hinausweisenden Äußerung.
Musik ist ein zutiefst kommunikatives Medium bzw. Phänomen. Es ist spürbar, dass sich das Vergnügen in Ihrer Musik den Interpreten und schließlich dem Publikum mitteilt – und nicht ausschließlich in den Werken, bei denen das allein durch den Titel relativ nahe liegt, wie z. B. in der Ouvertüre „Musik für ein Fest“ oder in dem wunderbaren Märchen für Kinder und Erwachsene „Der Esel Hesékiël“ für Erzähler und Orchester. Wie kann so etwas gelingen?
Keiner befiehlt sich zum Genie, aber er ist frei – auch in unserer Epoche –, dem Ineinanderfließen der Kenntnis, die wir vom riesigen Schatz des uns überlieferten Schönen haben, und dem Instinkt sowie der Wachheit unseres Ohres keine artifiziellen Schranken aufzuerlegen. Und es will mir scheinen, dass man gut daran tut, für die Musiker zu schreiben, ihnen Aufgaben zu stellen, die ihrer Kunst entgegenkommen, die sie gerne annehmen und deren Gestaltung bei der Aufführung zu einem auch emotional lohnenden Ergebnis führt.
Komponieren bedeutet Entscheiden. Ist es auch dieses Terrain relativer Freiheit, welches Ihnen als Autor Vergnügen bereitet – bei aller Widrigkeit des Geschäftes, wenn es anschließend darum geht, das in dieser Sphäre Entstandene in die Öffentlichkeit zu tragen und dort zu verankern?
Vor jedem Beginn ist das Meer der möglichen Entscheidungen furchteinflößend. Erst die Schritt für Schritt einsetzende Begrenzung schafft das Werk, und mit ihr tun sich unaufhörlich neue, aber gewollt abgezirkelte Felder der Freiheit auf. Diese zum Fruchtland zu bestellen, ist unsere Arbeit. Auf den Gebrauch jener Früchte aber – auch, wenn diese in gewisser Weise unverderblich sind – haben wir Komponisten keinen Einfluss mehr. Gottfried von Einem sagte einmal so trefflich, man sei mit einem fertigen Werk „per Sie“ …
Die erste Information über ein neues Werk ist für Außenstehende sein Titel. Er kann Leitfaden, Inszenierung, intendierte Konnotation oder gar Rätsel sein. In welchem Stadium des Komponierens finden Sie die Titel Ihrer Werke? Können sie für Sie während der Entstehungsphase eine Art „Mantra“ bilden oder eher eine Art Eingangstor, hinter dem Sie den musikalischen Raum formen?
Für mich bedeuten Titel oftmals poetische Pforten, durch die man in einen spezifischen Raum eintritt. Genretitel (Sonate, Symphonie) verpflichten zur Auseinandersetzung mit Meisterwerken – und das stellt nach wie vor eine sehr reizvolle Herausforderung dar, die durch Identifikation oder Widerspruch beantwortet werden kann. Wir sind ja nicht allein! Oder aber wir suchen nach einer Abzweigung von den großen Straßen und folgen einem noch verborgenen Weg, den uns die Magie eines Titels weist. Wir halten die Schlüssel in Händen zu den Türen in Blaubarts Gewölben…
So manches Portal historischer Theater- oder Konzertgebäude trägt die Inschrift: „Dem Wahren, Guten, Schönen“. Ist das zu einem hehren und überkommenen Ideal geworden?
Törichte Gegenwart, die solche Ideale leichtfertig abtut! Aber man muss wissen: Das Schöne kann Abgrund sein, dennoch ist es das Erstrebte in aller Kunst. Gut ist es, wenn es zur verständlichen Rede zu werden vermag, und dann ist es zur Wahrheit geworden.
(aus [t]akte 2/2017)