„Was ihr seid, sind wir gewesen. Was wir sind, werdet ihr sein“ – diese Grabinschrift inspirierte Thomas Daniel Schlee zu einem Werk für den Kinderchor „Chœur à Cœur Enfants d’Europe“ und die Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz. Fernab von jeglicher Anbiederung nimmt es Kinder ernst.
Mit Was wir sind op. 77 für Kinderchor (mit Soli) und Orchester schuf Thomas Daniel Schlee eine Komposition für ein außergewöhnliches Chorprojekt in Ludwigshafen: Der Internationale Kinderchor „Chœur à Cœur Enfants d’Europe“ kommt speziell für dieses Stück zusammen und bringt es mit der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter Leitung von George Pehlivanian, der auch Initiator des Projekts war, zur Aufführung.
Was wir sind ist ein von Kindern gesungener (Rück-)Blick auf die Kindheit, eine Betrachtung über die Vergänglichkeit, ein Gedankenspiel und Memento mori zugleich. Die Vorstellung, dass „eine große Schar von Kindern einen Konzertsaal gefüllt mit sicher überwiegend erwachsenen Zuhörern gleichsam ansingt“, wurde bestimmend für Schlees Textauswahl. In vier Sätzen stellt er Lyrik von Rainer Maria Rilke, Matthias Claudius, Paul Fleming und den wenig bekannten österreichischen Dichtern Linus Kefer und Johann Leitgeb zusammen.
Titelgebender Ausgangspunkt und umrahmende Klammer ist jedoch die Abwandlung einer im deutschen Sprachraum verbreiteten Friedhofsinschrift: „Was ihr seid, sind wir gewesen. Was wir sind, werdet ihr sein“ – ein, wie Thomas Daniel Schlee kommentiert, „unbeschreiblicher Satz“, der als Formel der Unausweichlichkeit in einer Art „offenen Frage“ die Komposition umrahmt. Doch das Werk beginnt im ersten Satz mit einem Text allergrößter Unschuld, der die Magie der Kindheit in eine Szenerie der Harmlosigkeit kleidet und zugleich das „Hereinklaffen der Lebenskatastrophe“ andeutet:
„am rande des waldes / wo der mittag / nach küssen schmeckt / steigt ein kleiner / lila kinderballon / auf / daran hängt ein zettel / auf dem steht / was nie mehr sein wird“ (Linus Kefer).
Jenes „Hereinklaffen“ ist auch Thema von Rilkes fast grausamem Blick auf die „Kindheit“, woraus Schlee zeilenweise Parenthesen zwischen die vier Sätze der Komposition schneidet, eine jede in einer verschiedenen instrumentalen Färbung.
Die Komposition für Kinderchor, Kindersolisten und Orchester ist in einer modal erweiterten Tonalität gehalten und gewährleistet musikalische Fasslichkeit für die jungen Ausführenden. Ein einziges, zentrales Stück ist durchgehend zweistimmig für den Chor komponiert: die „Gedancken über der Zeit“ des Barockdichters Paul Fleming, die mit einem „gnadenlos klickenden Uhrwerk“ unterlegt sind. Mit dem Choral „Der Mensch“ von Matthias Claudius folgt ein Stück, das einen „erschütternden Text über die Vanitas“ über einem Orgelpunkt deklamiert. Ein zarter Schlusssatz bringt in einer Schichtung von Reminiszenzen eine musikalische Zusammenfassung: Die Zeit wird gleichsam aufgelöst, indem das Vorher-Nachher der Musik suspendiert wird: „Was wir sind, seid ihr gewesen. Was ihr seid, werden wir sein.“
Marie Luise Maintz
aus [t]akte 1/2011