Opern-Uraufführungen von Brice Pauset, Bruno Mantovani und Michaël Levinas
Das erste Vierteljahr 2011 steht für die Editions Henry Lemoine im Zeichen des Musiktheaters. Im Januar konnte das Berliner Publikum im Schiller Theater die Uraufführung der szenischen Version von Brice Pausets Exercices du silence sehen. Und für März sind zwei thematisch aus der Literaturgeschichte schöpfende Opern geplant: die eine an der Opéra de Lille von Michaël Levinas, einem Vertreter des französischen Spektralismus, die andere an der Opéra National de Paris von Bruno Mantovani, dem „Shooting Star“ der neuen Komponistengeneration Frankreichs.
Während Brice Pauset mit seinem Monodram auf Intertextualität setzte und sich von Leben und Briefen der Louise du Néant, einer französischen Mystikerin des 18. Jahrhunderts, inspirieren ließ, verarbeitet Bruno Mantovani in vier Opernakten das Leben der russischen Dichterin Anna Akhmatova (Libretto von Christophe Ghristi), die eigentlich Andrejewna Gorenko hieß und ein Ausnahmeschicksal hatte. Zwischen ihren Erfolgen vor dem Ersten Weltkrieg und ihrer Rehabilitierung in den 60er Jahren liegen mehr als vier Jahrzehnte der Ächtung ihrer Werke; und stets lehnte sie es ab, ins Exil zu gehen. Mantovanis Partitur sieht sieben Sänger, Chor und Orchester vor. Eine eloquente Musik schildert Höhen und Tiefen dieses von der Biografie der Dichterin inspirierten und ihren Texten durchsetzten Dramas vortrefflich. Mehrfach wird der Zuschauer die Titelheldin dabei erleben, wie sie Verse ersinnt …
Franz Kafkas Die Verwandlung muss man nicht vorstellen. Michaël Levinas nimmt sich dieser für unsere Zivilisation signifikanten Erzählung, die noch nie als Opernstoff diente, allumfassend an. Jedermann kennt die Geschichte, den Helden der Handlung und Antihelden, der durch eine neue körperliche Existenzform an Grenzen stößt, von den Seinen verstoßen wird und mangels Anpassungsfähigkeit umkommt: In der Gesellschaft ist kein Platz für Ungeheuer. Levinas‘ Musik in La Métamorphose schildert dieses langsame Gleiten in den Tod von der anfänglichen Metamorphose an, die, im griechischen Wortsinn, die Katastrophe ist, die „entscheidende Wende“. Weit von Ironie entfernt, erhebt der Komponist Kafkas Text in den Rang eines Mythos und behandelt ihn auf gemessen-feierliche Art.
Levinas hat sich in jüngster Zeit intensiv mit Fragen rund um den Gesang auseinandergesetzt, was seiner Musik zugutekommt. Le Poème battu, Trois chansons pour la loterie Pierrot et Jean Lagresle, Le „o“ du haut sind wichtige Vokalkompositionen von ihm mit neuen Gesangstechniken, die seiner Beschäftigung mit dem Spektralismus und der Analyse von gesungenen Klängen entspringen; der Komponist selber nennt diese jüngsten Werke „Madrigale“.
Der gleichen expressiven Logik gehorchen auch die Textur von La Métamorphose sowie der Satz von Stimmen, Instrumenten und Elektronik (die am Ircam, Centre Pompidou Paris, hergestellt wurde). Die Musik ist ein einziges Gleiten. Die genannte Wende ist zweifach: Zwar ist da zu Beginn eine Verwandlung, doch handelt die Erzählung dann vor allem davon, wie diese Verwandlung ihrerseits verwandelt: nämlich die Umgebung von Gregor Samsa.
Benoît Walther
(Übersetzung: Irene Weber-Froboese)