Der englische Komponist Thomas Adès ist fasziniert von Totentanzdarstellungen. Der berühmte, im Krieg zerstörte Lübecker Totentanz ist Ausgangspunkt für sein bisher größtes sinfonisches Werk.
Nach von der Kritik gefeierten Aufführungen in London, Budapest, Waschau und New York erfährt Thomas Adès neuestes Werk Totentanz im Mai seine deutsche Premiere durch die Aufführung der Meininger Hofkapelle unter Philippe Bach. Totentanz, ein Werk, das Solopartien für Bariton und Mezzosopran mit einer (sehr) großen Orchesterbesetzung zusammenführt, ist Adès’ bislang umfangreichste Komposition für den Konzertsaal. Sie wurde dem Bariton Simon Keenlyside und der Mezzosopranistin Christianne Stotijn auf den Leib geschrieben und bildet den Höhepunkt von Adès‘ lang andauernder Begeisterung für Totentänze. Diese zeigte sich zuvor bereits im „Tango mortale“ aus Arcadiana (1994), in der drogenberauschten Tanzmusik in Asyla (1997) und im teuflischen „Cancan macbre“ am Ende von Lieux Retrouvés (2009).
Mit Totentanz reiht sich Adès in eine lange Linie von Komponisten ein, die sich des Themas angenommen haben. Seine Musik spielt beständig auf diese Tradition an.
Totentanz basiert auf dem dreißig Meter langen Wandbehang aus bemaltem Tuch, der 1463 für die Marienkirche in Lübeck geschaffen wurde (Ausschnitt Vorkriegsfotografie). Die Kopie, mit der man das Orginal im 18. Jahrhundert ersetzte, fiel den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs zum Opfer. Folgt man der Reihenfolge der Bilder (und bedenkt man den ursprünglichen deutschen Text), entpuppt sich das Stück als ein Dialog zwischen einem genauso charismatischen wie schadenfroh-makabren Sensenmann (Bariton) und dem Trauerzug seiner zahllosen Opfer (Mezzosopran). Ihnen begegnet der Tod in strikt absteigender Rangfolge, von Papst und Kardinal bis hin zu Jungfer und Kind. Adès zeichnet jeden Charakter äußerst lebendig: Schallende Ambosse und militärische Marschtrommeln kündigen den Ritter an, rustikale, aus dem Gleichgewicht geratene Hornsignale den Bauern. „Der Totentanz ist keine freiwillige Angelegenheit“, beobachtet Adès. „Es ist ein Tanz, bei dem wir alle mitmachen müssen. Er soll in einem Atemzug Furcht einflößen, die Menschen gleich machen und dabei witzig sein – das ist absurd … Was ihn lustig macht, ist die Tatsache, dass jeder, der ihn tanzt, absolut machtlos ist, ganz gleich, um wen es sich handelt.“
Obwohl das Werk mit einem geordneten Wechsel der Stimmen beginnt, hat der Tod wenig Zeit für die mittleren Klassen, und bald beginnen sich, ständig unterbrochen, die Gesangslinien aufzutürmen. Die Musik beschleunigt sich in Richtung eines erdbebenhaften Höhepunkts, auf dem das gesamte Orchester eine aleatorische Eruption freisetzt. Sie erinnert an Witold Lutosławski, dem das Werk auch gewidmet ist.
Der Tanz wird von einer durchdringenden, rauen Ausführung des „Dies Irae“ in schrillen Holzbläsern in Bewegung gesetzt, während das Schlagwerk durchgehend prominent besetzt ist. Acht Spieler bedienen allerlei Pfeifen, Ratschen und Tierknochen, auch eine gewaltige Taiko-Trommel kommt mit kraftvoller Wirkung zum Einsatz.
Während der erhebliche Umfang, das bezwingende Drama und die gänzlich individuelle Tonsprache Totentanz zu einer Premiere mit gewaltigem Eindruck 2013 bei den BBC Proms verhalfen (der Telegraph sprach von einem „kulturellen Ereignis erster Größe“), so waren es insbesondere die intimen Schlusspassagen, in denen der Tod auf ein Neugeborenes trifft, die letztlich den stärksten Eindruck beim Publikum hinterließen. „Dieses Baby ist eigentlich jeder von uns“, bemerkt Adès. Er hat ein Finale von mahlerscher Eindringlichkeit geschaffen, das anmutig in die Höhe entschwebt, bevor es schließlich mit Wucht zurück in die Tiefen des Orchesters gezerrt wird. Für Alexandra Coughlan von The Arts Desk handelt es sich um einen „coup de théâtre, der die Erwartungen umdreht, der nicht bis auf die Knochen unter der Haut durchdringt, sondern sich auf die mit Fleisch verbundene Fantasie vom menschlichen Leben zurückzieht.“
Faber Music
(aus [t]akte 1/2015 – Übersetzung: Felix Werthschulte)