Ein Italiener an deutschen Höfen: Agostino Steffani. Der Komponist vermittelte zwischen italienischem und französischem Geschmack und schuf dabei ein ganz eigenes Idiom voll kräftigen Ausdrucks. Am besten zeigt dies seine Oper Niobe, Regina di Tebe.
Kein anderer Komponist hat die italienische Oper in Deutschland so stark geprägt wie Agostino Steffani (1654–1728). Lange schon vor dem sogenannten „vermischten Geschmack” der Telemann-Zeit war er ein kluger Vermittler zwischen den neuen Errungenschaften der italienischen und der französischen Oper, deren Stile er auf höchst originelle Weise zu kombinieren wusste. Ohne Zweifel gehört er zu den wichtigsten Opernkomponisten des ausgehenden 17. Jahrhunderts, der bei seinen Zeitgenossen in allerhöchstem Ansehen stand.
1654 in Castelfranco bei Venedig geboren, gelangte Steffani bereits als Zwölfjähriger an den Münchner Hof, und mit dem Amtsantritt Max Emanuel II. im Jahr 1680 begann seine Karriere als Opernkomponist und Diplomat. 1688 verließ Steffani München, um dem Ruf Herzog Ernst Augusts nach Hannover zu folgen. 1703 trat er schließlich in die Dienste des pfälzischen Kurfürsten Johann Wilhelm.
Niobe, Regina di Tebe aus dem Jahr 1688 ist Steffanis letzte Oper für den Münchner Hof. Bereits das Libretto weiß die ungeheure Wucht der Niobidentragödie aus Ovids Metamorphosen wirkungsvoll in Szene zu setzen.
Amphion, Usurpator von Theben, ist seines Amtes müde und übergibt seiner stolzen Frau Niobe die Regentschaft. Als jedoch Theben von thessalischen Kriegern belagert wird, ist die gewonnene Ruhe dahin, und Amphion fleht Zeus um Hilfe an. Diese wird ihm gewährt, und zu seinem ergreifenden Bittgesang erstehen wundersam schützende Mauern um die Stadt. Als Niobe ihren Mann nun von den Thebanern als einen Gott verehren lassen will und den warnenden Latona-Priester Tiresias schimpflich abweist, wird sie von den Göttern für ihren Hochmut mit dem Tod ihrer Kinder bitter bestraft. Niobe wird aus Gram zu Stein, Amphion nimmt sich vor Verzweiflung das Leben und die so von ihrem Tyrannen befreite Stadt erlangt die Freiheit wieder.
Für die Schwetzinger Niobe-Aufführung 2008 wurde die Oper im Rahmen der Edition Balthasar Neumann erstmals vollständig ediert. Sie offenbart eine enorme musikalische Gedankenfülle, die für das kurzlebige späte 17. Jahrhundert einzigartig ist. Interessanterweise widersprechen viele der Partitureintragungen Steffanis unseren heutigen interpretatorischen Vorstellungen von der Musik des späten 17. Jahrhunderts und machen die Oper so auch zu einem vitalen und aufschlussreichen Lehrstück für die Aufführungspraxis.
Deutlich spiegelt Niobe die Orientierung des Münchner Kurfürsten Max Emanuel am absolutistischen Hof Ludwigs XIV. wider. Obwohl Steffani fest in der Musiksprache seiner Heimat verwurzelt war, spielen in seiner Oper auch französische Stilelemente eine wichtige Rolle, mit denen sich der Komponist bei Lully in Paris vertraut gemacht hatte. Dies zeigt sich beispielsweise in der Verwendung typisch französischer Tänze oder in einer besonders großen und bunten Orchesterbesetzung. So wird etwa Amphion (Anfione), der mythische Erfinder der Leier und der Harmonie, in einer Schlüsselszene mit einem instrumentalen Aufwand vorgestellt, wie ihn die italienische Oper schon lange nicht mehr kannte. Der zugehörige Arientext spielt auf die Harmonie der Sphären aus Platons Politeia an, und Steffani gelingt es eindrucksvoll, dieses Bild von der Weltenharmonie mit allen Mitteln der Tonkunst sinnfällig zu machen. Ein kaum zu überbietender Realismus zeichnet die Sterbeszenen Niobes und Amphions aus: Jede Gemütsregung zwischen Schmerz und Verzweiflung wird auf differenzierteste und häufig sehr kühne Weise ausgedrückt. Dabei beschränkt sich die Oper auf vergleichsweise wenige, dafür aber gleich gewichtete Rollen. Hierdurch wird kammerspielartig eine besonders individuelle Charakterzeichnung möglich, die das Werk gerade für die moderne Opernbühne interessant macht.
Thomas Krümpelmann
aus [t]akte 2/2010