Francesco Cileas schmales Opernschaffen nimmt eine singuläre Position im veristischen Musiktheater ein. Im zweiten Teil der Vorstellung porträtiert der Autor „L‘Arlesiana“ und „Gloria“.
Francesco Cilea (1866–1950) hinterließ im Unterschied zu seinen Zeitgenossen Pietro Mascagni, Ruggero Leoncavallo, Umberto Giordano und Giacomo Puccini, mit denen er gemeinsam im öffentlichen Bewusstsein als „Giovane scuola italiana“ firmierte, ein nur schmales musiktheatrales Œuvre. Von den fünf Opern, begonnen mit dem Frühwerk Gina über La Tilda, L’Arlesiana, Adriana Lecouvreur bis zu Gloria, konnte sich allein das Drama über die französische Tragödin Adriana Lecouvreur dauerhaft im internationalen Repertoire etablieren. Dabei erweist sich Cileas Opernschaffen bei näherer Betrachtung als eine klug konzipierte Versuchsanordnung über die Möglichkeiten des Komponierens für das italienische Musiktheater des Verismo im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert.
„L’Arlesiana“
In besonderer Weise trifft dies auf L’Arlesiana zu, ein Dramma lirico, dessen Libretto von Leopoldo Marenco auf der Grundlage von Alphonse Daudets Schauspiel L’Arlesienne (1872) bzw. dessen Erzählsammlung Lettres de mon moulin (1869) entstanden ist. Bereits 1872 hatte Georges Bizet eine umfangreiche Bühnenmusik zu Daudets Schauspiel komponiert, eine Musik, die rasch populär wurde, während Daudets Werk sich nicht durchzusetzen vermochte. Für Cilea war dies kein Hinderungsgrund. Durch die innere thematische Nähe zwischen Daudets Drama und den Ideen des Verismo – Regionalismus des Sujets und Fokussierung auf das Bild einer intakten Natur – und durch die Erkenntnis, dass Daudet eine für das Musiktheater singuläre Dramaturgie entworfen hat, war der Stoff für Cilea besonders reizvoll.
Der Protagonist Federico verzehrt sich in Liebe zu einer namenlosen Frau aus Arles, muss aber zugleich erfahren, dass seine Familie und die Bewohner seines Heimatdorfes diese Liebe strikt ablehnen. Unüberwindlich ist der Konflikt zwischen individuellen Wünschen, strenger Moral und sozialer Kontrolle. Für Federico bleibt nur die Flucht in den Wahnsinn, schließlich stürzt er sich in den Tod. Wer aber die Frau aus Arles ist, bleibt im Ungewissen, denn sie ist – so die dramaturgische Pointe – eine nie in Erscheinung tretende, verborgene Antagonistin.
Die musikalisch-dramaturgische Konzeption von L’Arlesiana zeigt eine durchkomponierte Großform, aus der sich einzelne Szenen bzw. geschlossene Nummern herausschälen lassen, deren Abfolge einer beständigen Kontrastierung von dramatischer Situation und psychologischer Introspektion folgt. Cilea gestaltet den musikalischen Ton der Oper durchgängig wie eine Pastorale: L’Arlesiana ist ein musikalisches Naturbild, das von der mythischen Einheit des Menschen mit einer intakten und unberührten Natur erzählt, von einer Einheit, die es vor aller äußeren Gefährdung zu bewahren gilt – beispielhaft in Baldassarres mit „Andante pastorale“ überschriebenen Arie „Come due tizzi accessi“, im Intermezzo „La notte di Sant’Eligio“ und in der Soloszene von Federicos Mutter eingefangen. Auch in der ausladenden Szene zwischen Federico und seinem Widersacher Baldassarre rekurriert Cilea auf den Pastoralton, um zum Abschluss mit Federicos Arie „E la solita storia del pastore“ eine gleichsam idealtypische Formulierung des Lyrisch-Pastoralen zu finden. Wie Cilea L’Arlesiana interpretiert wissen möchte, dokumentiert das Finale. Ein kurzes Orchesternachspiel zitiert aus Federicos Arie. Es ist das Motiv zur Textzeile „Anch’io vorrei dormir così, nel sonno almen l’oblìo trovar!“ Der Schlaf ist das Synonym für den Tod; und erst im Tod, wenn der Mensch zurücksinkt in den Kreislauf der Natur, kann man Vergessen finden.
L’Arlesiana wurde am 27. November 1897 am Teatro Lirico in Mailand uraufgeführt. Der Abend begründete die Weltkarriere Enrico Carusos, der mit der Partie des Federico sein vielbeachtetes Debüt gab. Die Kritik aber beklagte Längen der Oper selbst, so dass Cilea die vier Akte auf drei kürzte. Doch er unterzog die Oper weiteren Überarbeitungen und Ergänzungen. Eine als endgültig zu betrachtende Fassung erlebte am 26. Februar 1935 am Teatro di San Carlo in Neapel ihre Uraufführung.
„Gloria“
Francesco Cileas letzte vollendete Oper Gloria problematisiert nochmals in pointierter Weise die Frage nach der Bedeutung veristischen Komponierens. Die dreiaktige Oper entstand nach einem Libretto des Publizisten Arturo Colautti (1851–1914) und wurde am 15. April 1907 an der Mailänder Scala uraufgeführt. Die kritischen Reaktionen von Presse und Publikum veranlassten Cilea, das Werk zu modifizieren (Uraufführung der neuen Version war am 4. Februar 1908 am Teatro Costanzi in Rom) und schließlich mit einer Neufassung des Librettos von Ettore Moschino teilweise neu zu komponieren. Diese Fassung wurde am 20. April 1932 am Teatro di San Carlo in Neapel uraufgeführt.
Im Zentrum von Gloria steht die Stadt Siena in der Toskana, an der exemplarisch das Machtgefüge Italiens im 14. Jahrhundert dargestellt wird. Arturo Colautti zeigt die Stadt in einer Zeit, als die Fehden zwischen einzelnen Familien die Zeitläufe bestimmten. Die Familie der Bardi hat sich im Gefüge der Signoria etabliert und untergräbt die republikanischen Strukturen, so dass die Bevölkerung von der politischen Entscheidungsfindung ausgeschlossen wird. Im Kampf der Familien muss sich Lionetto Ricci beugen und die Stadt verlassen, versucht nun aber mit Unterstützung des Kaisers, den Widerstand der herrschenden Signoria und damit der Stadt militärisch zu brechen. In diese Konstellation positioniert Colautti die tragische Liebesgeschichte zwischen Gloria de’ Bardi und Lionetto Ricci. Diese Liebe ist jenseits der inneren Nähe zur Romeo-und-Julia-Thematik zugleich Sinnbild der politischen Situation. Die Partikularinteressen können nicht zum Ausgleich gelangen, womit Colautti einem Geschichtspessimismus Ausdruck verliehen hat, dem man angesichts der Lage in Italien zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine Aktualität nicht absprechen kann. Gloria ist also eine Parabel.
Gerade diese inhaltliche Zuspitzung aber ist in der Fassung von Ettore Moschino relativiert, denn hier wird der politische Konflikt verkürzt und ins Private umgebogen. Folgerichtig gerinnen die Oper zur Liebestragödie und das Finale mit dem Selbstmord Glorias zu einem Dokument der über den Tod hinaus dauernden Liebe.
Colauttis Libretto steht in der Tradition des historischen Verismo – eines Verismo, der historisch-politische Ereignisse mit konkreten Orten, Dekorationen und Kostümen zu fundieren sucht. Wie schon in Ruggero Leoncavallos I Medici oder Umberto Giordanos Andrea Chenier wird die Bühne zum Abbild historischer Wirklichkeit. Gleichermaßen ist Cileas Musik von der Idee getragen, dem historischen Sujet ein Fundament zu geben. Der Rekonstruktion der Historie wird besondere Aufmerksamkeit gewidmet, indem der Komponist ganz im Sinne veristischen Komponierens die zitierte Musik auf und hinter der Bühne, vor allem aber einen gleichsam historisierenden Religioso-Ton als durchgängiges Modell nutzt – paradigmatisch gegenwärtig im kurzen Schlussakt, der szenisch und musikalisch nichts anderes als eine Kirchenszene ist. Als Chiffren der Atmosphäre im Dom zu Siena setzt Cilea im Präludium ein von Orgel und Kirchenglocken begleitetes Magnificat, später einen festlichen Hochzeitsmarsch, einen einzig von der Orgel begleiteten Choral und kontrastierend ein „Dies irae“ als Synonym für den bevorstehenden Mord an Lionetto ein. Dem Höhepunkt der Oper, dem Mord an Lionetto, verleiht hingegen das Hauptmotiv aus dessen Erzählung „Storia ho di sangue“ musikalische Prägnanz. Und es ist dieses Motiv des politischen Widerstands gegen die herrschende Macht der Signoria, das in der ersten Fassung die Oper beschließt, während in der späteren Version das Magnificat-Thema und die mit der Liebe zwischen Gloria und Lionetto assoziierten Themen das entpolitisierte Finale markieren.
Francesco Cilea war Teil des italienischen Opernsystems; zugleich aber dokumentiert sein Œuvre jenseits personalstilistischer Besonderheiten eine planmäßige Reflexion über die Bedingungen veristischen Komponierens. La Tilda erprobt die mit Pietro Mascagnis Cavalleria rusticana etablierten Verfahren im Kontext einer dreiaktigen Oper, L’Arlesiana problematisiert die ideologischen Grundlagen des Verismo, Adriana Lecouvreur ist das Dokument einer Ästhetik der Wahrheit und Wahrhaftigkeit des Gesangs und Gloria die sinnfällige Verknüpfung der Ideen des Verismo mit einem historischen Stoff, um ein im emphatischen Sinne aktuelles Werk hervorzutreiben.
Hans-Jochim Wagner
(aus [t]akte 1/2020)