Die Neuinszenierung der Oper „Lanzelot“ in Weimar wurde hymnisch als „Sensation“ und „Wiederentdeckung erster Güte“ gefeiert. Vier andere Opern von Paul Dessau warten noch auf ihre Rückkehr auf die Bühne.
Paul Dessau sah in der Oper das „ausdrucksstärkste Genre, um die großen gesellschaftlichen Probleme [seiner] Zeit künstlerisch zu beleuchten“. Sie bildet das Zentrum seines Schaffens: Innerhalb von knapp 30 Jahren schuf er mit fünf Meisterwerken höchst individuelle Beiträge zu dieser „traditionsbeladenen Gattung“ (Daniela Reinhold). Er kämpfte in seinem Opernschaffen für den Frieden, thematisierte den Klassenkampf und die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft, hielt der real existierenden (sozialistischen) Gesellschaft den Spiegel vor und prangerte Missstände an. Dessau verstand sich als politischer Künstler, der mit seiner Musik in die Gesellschaft und die Politik einwirken wollte. Wie gut ihm das gelungen ist, zeigte eindrücklich die Wiederaufführung seiner dritten Oper Lanzelot. Auch nach 50 Jahren in der Versenkung ist die Thematik geradezu erschreckend aktuell geblieben. Die Musik klingt aufregend, frisch und unerhört und doch trägt sie deutliche Merkmale der 1960er Jahre, denn ein einschneidendes Ereignis prägte das spätere Opernschaffen Paul Dessaus: die Uraufführung der Oper Die Soldaten von Bernd Alois Zimmermann in Köln am 15. Februar 1965. Ein Jahr später, im Oktober 1966, konnte Dessau eine Aufführung erleben und notierte in sein Notizbuch: „Hervorragendes Werk. Gehört zum Besten, was ich seit langem auf dem Operntheater gehört habe.“
„Die Verurteilung des Lukullus“
Vor 1965 schuf Paul Dessau auf Vorlagen von Bertolt Brecht die Anti-Kriegsoper Die Verurteilung des Lukullus und Puntila, ein „heiteres Werk“, das den „Ernst des Kampfes der Klassen“ deutlich machen sollte. Lukullus ist als Reaktion der Autoren auf die unmittelbare deutsche Vergangenheit zu verstehen: Am Beispiel des römischen Feldherren Lukullus werden Angriffs- und Eroberungskriege angeprangert und verurteilt. Ein Totengericht der Unterwelt, bestehend aus einem Fischweib, einer Kurtisane, einem Lehrer, einem Bäcker und einem Bauern, wägt seine zerstörerischen Taten gegen die nutzbringenden ab, entlarvt Lukullus als Kriegsverbrecher und spricht schließlich das Urteil „Ins Nichts mit ihm!“. Die letzte Szene – „Das Urteil“ – ein großangelegtes Schlussrondo – gehört zu den eindrücklichsten Opernfinali in der Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Orchesterbesetzung weist eine ungewöhnliche Farbpalette auf: Die weichzeichnenden Instrumente (Violinen, Oboen, Klarinetten, Fagotte und Hörner) fehlen komplett. Stattdessen sind Akkordeon, Trautonium und reiches Schlagzeug besetzt. Bereits vor der von Hermann Scherchen geleiteten Probeaufführung im März 1951 und der eigentlichen Uraufführung am 12. Oktober 1951 an der Staatsoper Berlin entzündete sich an dieser Oper die erste „Formalismus“-Debatte nach sowjetischem Vorbild in der noch jungen DDR, und die Autoren rangen um eine endgültige Form. Nachdem das Werk nach acht Aufführungen abgesetzt worden war, durfte es erst ab 1957 wiederaufgeführt werden und wurde letztlich zu Dessaus meistgespielter Oper im In- und (auch im „kapitalistischen“) Ausland.
„Puntila“
Kurz vor Bertolt Brechts überraschendem Tod im August 1956 konnte Dessau mit ihm noch über ein neues Projekt sprechen – die „Vertonung“ des Schauspiels Herr Puntila und sein Knecht Matti. Das Libretto erarbeiteten die Brecht-Schüler Peter Palitzsch und Manfred Wekwerth zusammen mit dem Komponisten eng an der Vorlage, so dass Brechts Handschrift gewahrt blieb. Puntila ist ein Gutsherr und ein brutaler Tyrann, egoistisch, berechnend und rücksichtslos. Betrunken aber ist er nicht mehr Herr seiner Sinne und wird zum sozialen und humorvollen Menschenfreund. Matti ist sein Knecht, der sich unfrei in Abhängigkeit zu seinem Herrn befindet. Die Klassenunterschiede werden schonungslos dargestellt und durch die Orchestration die Gegensätze der Figuren noch stärker betont. Matti beendet die Willkür schließlich, indem er seinen Herrn verlässt und so zum Sinnbild für die Veränderung der (gesellschaftlichen) Verhältnisse wird. Puntila entstand für Walter Felsenstein und die Komische Oper in Berlin. Allerdings überforderten die Ansprüche der dodekaphon gearbeiteten Partitur die Möglichkeiten des Hauses, so dass das Werk erst 1966 an der Staatsoper Berlin in der Regie von Ruth Berghaus (Dessaus zweiter Ehefrau) uraufgeführt werden konnte und zu einem großen Erfolg wurde.
„Lanzelot“ und „Einstein“
„Vielseitige, phantasievolle und gesellschaftsbezogene Aussagen“ fand Paul Dessau in der Märchenkomödie Der Drache von Jewgeni Schwarz: Der Drachentöter Lanzelot befreit eine Stadt von seinem Usurpator. Doch die Menschen haben sich eingerichtet und wollen nicht befreit werden, so dass die wiedergewonnene Freiheit neue Drachen hervorbringt. Schonungslos und erstaunlich unverhüllt halten der Komponist und sein Librettist Heiner Müller der Gesellschaft im „sozial existierenden Kommunismus“ einen Spiegel vor. Der „ungeheure Stoff“ hat Dessau nicht nur dazu verleitet, einen Riesenapparat zu bemühen – was er später skeptisch bewertete –, sondern auch seine Schreibweise zu verändern. Große Teile der Partitur des Lanzelot sind aleatorisch gestaltet, und Dessau beginnt vermehrt, Zitate einzuarbeiten. Beide Aspekte verweisen stark auf Die Soldaten von Zimmermann und finden sich noch deutlicher ausgearbeitet in der Partitur von Einstein, der Oper aus Dessaus Schaffen mit der längsten Entstehungsgeschichte (von 1955 bis 1973). Sie ist als Parabel über die Verantwortlichkeit des Wissenschaftlers in der Zeit des „technischen Zeitalters“ zu verstehen. Es geht nicht um biografische Genauigkeit, sondern um „das menschliche Problem dieser großen Figur, die ungeheuer dramatisch ist“. Dessau konzipierte zusammen mit seinem Librettisten Karl Mickel den Einstein als „Nummernoper“. Deutlich treten innerhalb der Szenen etliche Bach- und Mozart-Zitate hervor, die zusätzliche Bedeutungsebenen hinzufügen und das Geschehen in größere Zusammenhänge überführen.
„Leonce und Lena“
Das Spannungsfeld zwischen Wollen und Sollen, zwischen Utopie und Wirklichkeit ist Thema der letzten Oper von Paul Dessau Leonce und Lena. Der Librettist Thomas Körner griff stark in die Lustspiel-Vorlage Georg Büchners ein, um die „Parodie einer abgelebten Gesellschaft“ zu schaffen, und die Personen als Marionetten eines willkürlich handelnden Königs und eines aufgeblähten Machtapparats dazustellen. Die Oper wurde schon unmittelbar nach der posthumen Uraufführung 1979 als Gleichnis für die Gesellschaft und als Sinnbild der Zustände in der DDR verstanden. Dessau beschränkte sich auf einen Stil der Andeutungen, der Fragmente – auch hier durchaus dem Spätwerk Zimmermanns vergleichbar. Hans Heinz Stuckenschmidt konstatierte „Züge der Unfertigkeit“. Und doch kann dieses „Spätwerk“ als Bündelung und gelungener Abschluss eines musikdramatischen Œuvres verstanden werden, das ein „wichtiger Stein im Mosaik der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts“ (Roland Dippel) ist und das verdient, in entsprechender Position wieder eingefügt, vor allem aber wiederentdeckt und wieder aufgeführt zu werden.
Robert Krampe
(aus [t]akte 1/2020)