Die Edition von Tschaikowskys Meisteroper mit Lautschrift auf der Basis des Internationalen Phonetischen Alphabets: wertvolle Handreichung für nicht russischsprachige Sänger.
Die Alkor-Ausgabe von Peter Tschaikowskys „Eugen Onegin“ enthält nicht nur den Originaltext des Librettos in kyrillischer Schrift und eine sangbare deutsche Übersetzung, sondern auch eine phonetische Umschrift auf der Grundlage des Internationalen Phonetischen Alphabets (IPA), die es nichtmuttersprachlichen Sängerinnen und Sängern erleichtert, den russischen Text korrekt auszusprechen. Diese Transkription wurde von ipipapa (https://ipipapa.com) erstellt, einem jungen Unternehmen aus München, das im Jahr 2023 mit dem Deutschen Musikeditionspreis ausgezeichnet wurde.
[t]akte hat mit Korbinian Slavik und Isaac Selya über dieses Projekt gesprochen. Korbinian Slavik ist Geschäftsführer bei ipipapa. Der Dirigent Isaac Selya unterstützt die Fertigstellung der phonetischen Transkription mit seinem musikalischen und sprachlichen Fachwissen.
Was ist IPA?
Slavik: IPA ist die Abkürzung für das Internationale Phonetische Alphabet, ein umfassendes System der Lautnotation, das sämtliche Laute aller Sprachen exakt abbildet. Während bei herkömmlichen Transliterationen lediglich ein Zeichensatz durch einen anderen ersetzt wird, ohne dabei die genaue Aussprache widerzuspiegeln, erfasst IPA jeden Laut so, wie er tatsächlich artikuliert werden soll. Im Hinblick auf „Eugen Onegin“ heißt das, dass jedes Phon bzw. jedes Phonem so transkribiert wird, wie es idealerweise gesungen werden sollte, was sowohl sprachliche Genauigkeit als auch Authentizität bei der Aufführung gewährleistet.
Warum ist eine phonetische Umschrift so wichtig für Sängerinnen und Sänger?
Selya: Opernsängerinnen und Opernsänger müssen so vieles auswendig lernen und in mehreren Sprachen singen können. Allerdings ist es nicht immer möglich, Sängerinnen und Sänger zu finden, die die Sprache der jeweiligen Oper auf muttersprachlichem Niveau sprechen, wenn beispielsweise eine deutsche Oper in Mexiko oder eine russische Oper in den USA aufgeführt wird. Daher ist eine phonetische Transkription für Sänger, die eine Sprache gar nicht oder nicht akzentfrei beherrschen, eine hervorragende Hilfe. Sie erleichtert Musikern aus aller Welt den Zugang.
Worauf muss bei der Transkription geachtet werden?
Slavik: Die Umschrift verlangt ein Gleichgewicht zwischen sprachlicher Präzision und musikalischer Zweckmäßigkeit. Das Singen stellt besondere Anforderungen, die über die rein linguistische Transkription hinausgehen. Zum Beispiel werden Vokale, die aufgrund ihrer typischen Dehnung beim Singen eine zentrale Rolle spielen, wegen der für den klassischen Gesang erforderlichen tieferen Kehlkopfposition oft anders ausgesprochen. Melismen erfordern eine präzise Ausrichtung bei der Transkription. Und die Silbentrennung unterscheidet sich beim Gesang oft von jener der geschriebenen Sprache usw. Unser System erfasst diese Nuancen und stellt sicher, dass die Lautschrift diese Eigenheiten des Gesangs widerspiegelt.
Eine besonders interessante Herausforderung bei diesem Projekt war die Einbeziehung stilistischer Details, wie z. B. die subtilen Merkmale eines französischen Akzents beim Singen auf Russisch, wie es in der Szene und Arie des Monsieur Triquet der Fall ist. Diese unterschiedlichen Stilebenen bereichern die Transkription und ermöglichen es den Sängern, die kulturelle und sprachliche Essenz des Werkes authentisch zu verkörpern.
Durch die Kombination von KI-Technologie mit einem tiefen Verständnis für stimmliche und sprachliche Feinheiten erstellen wir Transkriptionen, die sowohl hochpräzise als auch spezifisch auf die Kunst des Singens zugeschnitten sind.
Wie leicht ist IPA zu erlernen und zu lesen?
Selya: Das IPA-System ist wie Schach: leicht zu erlernen, aber nicht ganz so leicht zu beherrschen. Es gibt viele Zeichen, die der unglaublichen Vielfalt der menschlichen Stimme möglichen Laute entsprechen. Das Erlernen der gebräuchlichsten Symbole, die beispielsweise für das Singen in italienischer Sprache notwendig sind, kann sehr schnell erfolgen, aber die vollständige Beherrschung der Feinheiten auf dem Niveau eines Sprachprofis ist ein lebenslanges Projekt. Auf den ersten Blick können alle diese Zeichen einschüchternd wirken, aber da die Zeichen denselben Lauten in jeder denkbaren Sprache entsprechen, können Sängerinnen und Sänger das Internationale Phonetische Alphabet lernen und es dann in jeder Sprache anwenden. Außerdem ist das Erlernen des IPA ein positiver Kreislauf, der das Erlernen neuer Sprachen erleichtert. Wenn ein Sänger, der nicht fließend Deutsch spricht, mit Hilfe einer IPA-Transkription an seiner ersten Oper auf Deutsch arbeitet, entwickelt er ein Verständnis für die Regeln der Sprache, so dass er mit der Zeit sogar weniger auf IPA-Transkriptionen angewiesen ist. Wenn derselbe Sänger dann an seinem vierten Werk auf Deutsch arbeitet, muss er nicht mehr jedes Wort überprüfen.
Wird zum Beispiel das „V“ in „Viktoria“ zu Beginn von Webers „Freischütz“ wie das IPA-Zeichen [f] wie in „Vater“ oder wie das IPA-Zeichen [v] wie in „Vokal“ ausgesprochen? Nichtmuttersprachler entwickeln allmählich ein Gespür für die besonderen Fälle und möglichen Ausnahmen, bei denen sie eine IPA-Transkription zurate ziehen müssen. Bei einem Großteil der Musik und des Textes werden sie jedoch auf Wörter stoßen, die sie durch das Studium des IPA und anderer Werke bereits kennengelernt haben, so dass sie diese auf den ersten Blick in der korrekten Form aussprechen können, ohne dass sie dafür auf eine Transkription zurückgreifen müssen.
Wie verbreitet ist IPA?
Selya: IPA ist bereits ziemlich weit verbreitet. Der Charaktertenor und Gesangslehrer Nico Castel veröffentlichte eine Reihe von Transkriptionen von Werken des Standardrepertoires, darunter Opern von Mozart, Rossini, Verdi, Puccini, Strauss, Wagner und Bizet. Über manche seiner Transkriptionsentscheidungen kann man vielleicht streiten, und IPA als Hilfsmittel hat sich seither weiterentwickelt, aber Castels Bände sind nach wie vor eine grundlegende Quelle.
Besonders in den USA, wo viele Musikerinnen und Musiker Englischmuttersprachler sind, die keine weiteren Sprachen beherrschen, gibt es manchmal eine Art Minderwertigkeitskomplex in Bezug auf die fremdsprachliche Diktion. Dies veranlasst Sänger dazu, viel Zeit in das Erlernen von IPA zu investieren und daran zu arbeiten, so muttersprachlich wie möglich zu klingen, wenn sie in ihnen fremden Sprachen singen.
Welchen Ansatz verfolgt ipipapa bei der Erstellung einer neuen Transkription?
Slavik: Wir beginnen mit einer akribischen phonetischen Analyse der Ausgangssprache und arbeiten eng mit Gesangsexperten zusammen, um die Transkription für die musikalische Verwendung noch zu verfeinern. Um das zu erreichen, nutzen wir zu Beginn ein automatisiertes Verfahren, das auf Künstlicher Intelligenz basiert. Dadurch können wir Texte schnell und mit außergewöhnlicher Genauigkeit verarbeiten und uns an sprachliche und musikalische Besonderheiten anpassen. Dieser Prozess stellt sicher, dass die Lautschrift nicht nur sprachlich korrekt, sondern auch für die Interpretinnen und Interpreten sofort umsetzbar ist und die Kluft zwischen der Sprache und deren Vortrag überbrückt.
Welche Aspekte der Umschrift sind für Sängerinnen und Sänger besonders wichtig?
Selya: Wie bei einer Urtext-Ausgabe üblich stellt eine gute Transkription objektive Informationen klar dar und weist auf uneindeutige Stellen hin, die einer interpretatorischen Entscheidung bedürfen. Die objektiven Elemente, wie z. B. bestimmte Vokale, Konsonanten, Silbenbetonungen und auch besondere Eigenschaften wie die Palatalisierung (Hebung des Zungenrückens in Richtung des harten Gaumens) im Russischen, sind sofort ersichtlich. Sobald eine Sängerin oder ein Sänger das beherrscht, kann er seine interpretatorische Energie auf Elemente konzentrieren, die nicht von der Transkription erfasst sind, wie z. B. die Entscheidung, einen bestimmten Vokal ein wenig zu hauchen, um unterdrückte Sehnsucht auszudrücken, oder auf einem Konsonanten zu verweilen, um auf die überraschende Bühnenaktion einer anderen Rolle zu reagieren. So können sich die Sänger mit den Mitteln der Sprache ganz auf ihre Rollen, das Bühnengeschehen und die Musik einlassen.
Fragen und Übersetzung: Michael Haag
(aus [t]akte 1/2025)