Mit der neuen Edition von Georg Friedrich Händels beliebtester Oper „Giulio Cesare“ haben Bühnen nun die Möglichkeit, alle vier Fassungen nachzuvollziehen und die passendste auszuwählen.
Giulio Cesare in Egitto ist seit hundert Jahren die mit Abstand meist aufgeführte Oper Händels. Diesen Erfolg verdankt sie zum Teil ihrem Stoff, einer der bekanntesten Liebesepisoden der Weltgeschichte, zum anderen den besonders günstigen Umständen während der Komposition: Das international konkurrenzfähige Ensemble des Londoner Operntheaters mit dem Alt-Kastraten Francesco Bernardi (genannt „Il Senesino“) an der Spitze war seit einem halben Jahr durch die berühmte Primadonna Francesca Cuzzoni komplettiert worden; das Theatergebäude wurde renoviert und zum ersten Mal hatte Händel viel Zeit, seine Rollenkonzepte zu entwerfen, reifen zu lassen und auch wieder zu verwerfen.
Papierstudien haben gezeigt, dass Händel die Idee entwickelte, der Version der Uraufführung einen sichtbaren Vorrang gegenüber allen eventuell später notwendigen Änderungen einzuräumen, denn seine Direktions- und Archivpartitur ließ er auf Bögen größeren Formats aus einer anderen Papiermühle schreiben, von denen sich dann spätere Einfügungen auf den ersten Blick abheben sollten.
Die neue Ausgabe von Giulio Cesare erlaubt es, jede der vier Fassungen Händels (von 1724, 1725, 1730 und 1732) aufzuführen, davon zwei wahlweise mit den Sonderprogrammen von Benefizvorstellungen. Bemerkenswert ist dabei vor allem die Fassung von 1725, in der Händel die Hosenrolle des Sesto für den berühmten Tenor Francesco Borosini neu konzipierte. Sie erlaubt es aber auch, Händels Arbeitsweise bei der Erarbeitung seiner Rollenkonzepte zu studieren.
Das Libretto lässt den römischen Diktator Cäsar in einem freundlichen Licht erscheinen. Er belehrt seinen Gegner, den ägyptischen Tyrannen Tolomeo, darüber, wie man mit seinen Gegnern umgehen sollte: Er versöhnt sich mit der Witwe und dem Sohn seines von Tolomeo ermordeten Feindes Pompeo, er ist großzügig und gerecht, zupackend, aber auch diplomatisch, nachdenklich, der Grenzen seiner Macht bewusst und empfänglich für Kunst und Natur. Jeder dieser Facetten seines Charakters ist wenigstens eine Arie gewidmet, seinem Philosophieren über die Hinfälligkeit der menschlichen Existenz ein begleitetes Rezitativ.
Händels Autograph zeigt, wie dieses Charakterporträt in Text und Musik während der Arbeit an der Partitur entstand. Dafür zwei Beispiele: Eine ursprünglich für den ersten Akt geplante Arie wurde zunächst in den zweiten Akt verschoben, schließlich aber auch dort ersetzt. In beiden Fällen führte dies dazu, dass der Rollencharakter schärfer und nuancenreicher hervortrat: Cesares Vorsicht in einer Arie mit Hornsolo über das Verhalten von Jäger und Beute; sein Dialog mit der Natur in einem Zwiegespräch mit der Solo-Violine. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Händel dabei auf Wünsche des einflussreichen Hauptdarstellers Senesino einging. Beide Arien gehören zu den Juwelen der Oper.
Die eigentliche Hauptfigur dieser Oper aber ist nicht der Titelheld, sondern Cleopatra. Bei ihr gelingt es Händel, durch Musik die Entwicklung eines Charakters zu gestalten. Damit setzt sich der Komponist über das Libretto hinweg und und bittet seinen Textdichter, zwei Arientexte auszutauschen und ein begleitetes Rezitativ zu verlängern: Cleopatra hatte ihre Schönheit und ihren Charme mit Erfolg dafür eingesetzt, Cesare verliebt zu machen und ihn auf diese Weise als Verbündeten im Kampf mit ihrem Bruder um die Macht in Ägypten zu gewinnen. Als sie ihn dadurch in höchste Gefahr bringt, wird ihr schlagartig deutlich, dass sie ihn liebt, dass er mehr als ein Werkzeug für sie ist,
Der tragischen Situation, in der sie sich nun befindet, wird die kämpferische Arie, die Händel bereits komponiert hat, nicht mehr gerecht. Er bearbeitet sie für den rachedurstigen Sesto, dessen Vater Tolomeo hat ermorden lassen. Cleopatra erhält stattdessen eine große Arie des tragischen Typs, den Händel bis dahin Männern vorbehalten hatte. Doch diese Wendung hat Konsequenzen für die vorausgehenden Szenen: Um z. B. das Unvermittelte dieser Wendung zu betonen, vertonte Händel Cleopatras vorausgehende, an Venus gerichtete Bitte um Schönheit neu: weniger bescheiden, dafür voller Koketterie.
Händels Fähigkeit, Arien für neue Zwecke und andere Personen zu bearbeiten, ist so meisterhaft, dass das Ergebnis nicht nur den Vorgaben durch die jeweils geplante Besetzung entspricht, sondern meist auch die Vorlage übertrifft. Zur Meisteroper aber wird Giulio Cesare durch das neue Rollenkonzept für Cleopatra.
Hans Dieter Clausen
(aus „[t]akte“ 1/2019