Die neue Kammeroper Rivale von Lucia Ronchetti ist ein Auftragswerk der Staatsoper Unter den Linden Berlin. Die Idee zu diesem Werk entstand unter dem Eindruck der Lektüre eines vergessenen Librettos von Antoine Danchet, das dieser im Jahr 1701 für die Oper Tancrède von André Campra geschrieben hatte. Danchet verleiht der Figur der Clorinda einen intensiven und wechselhaften Charakter. Die wunderschöne sarazenische Prinzessin, die als stolze Kriegerin kämpfend ihr Land verteidigt, steht im Zentrum des musikalischen und dramaturgischen Interesses von Lucia Ronchetti. Durch eine gezielte Auswahl aus den französischen Versen hat die Komponistin ihren Text von Rivale vom epischen und erhabenen Ton entfernt, der die Legende von Tancredi und Clorinda aus Tassos Gerusalemme liberata (1574) bis zur Barockoper durchzogen hatte. Sie konzentriert sich stattdessen auf den zentralen Kern und Motor des Dramas. Das Dilemma, die Rivalität der Gefühle, der unauflösbare Konflikt zwischen Ehre und Liebe, zwischen einem Moralkodex und der Notwendigkeit des wirklichen Lebens, werden hier durch eine einzige Bühnenfigur verkörpert. Diese interagiert mit den Instrumentalisten, die hin und wieder gemeinsam mit ihr auf der Bühne agieren: Sie spricht mit ihnen, wird Teil ihrer Gruppe, trägt Konflikte mit ihnen aus. Die weibliche Stimme der Clorinda wird damit zur Figur, die die Stimmen des Kollektivs übernimmt. Sie verkörpert einerseits die erschütternde Einsamkeitserfahrung einer Frau, die vor der Unausweichlichkeit des eigenen Schicksals steht und sich rückhaltlos in ihren Feind verliebt hat. Darüber hinaus aber erweckt sie auch die Geschichte eines Volkes zum Leben, das von den Feindseligkeiten des Krieges zerrissen wurde, nach Befreiung strebt und für seine Rettung zu jedem Opfer bereit ist.
Die Oper ist in drei umfangreiche Szenen gegliedert, die auf unterschiedliche Weise die Stationen der Introspektion und der Wandlung der Figur der Clorinda nachzeichnen. Folglich werden auch die Orte der Handlung zu Symbolen und bezeichnen nicht ausschließlich einen physischen, sondern vielmehr einen emotionalen „Ort“, der das innerste Empfinden der Frau widerspiegelt (beispielsweise ein Schlachtfeld, auf dem Clorinda von Tancredi gefangengenommen wird, einen verzauberten Wald und ein weiteres Schlachtfeld).
Sowohl die zeitlichen als auch die geografischen Koordinaten verschwimmen in der traumähnlichen Handlung, deren Umrisse verwischt erscheinen. Es wird niemals klar definiert, ob Clorinda die Geschehnisse tatsächlich erlebt, ob es sich dabei nur um einen Reflex ihrer Psyche auf ein vergangenes Ereignis handelt oder ob sie, wie in einer Hypnose gefangen, die Wirklichkeit in den labyrinthischen Windungen ihres Geistes verklärt. Für den dramaturgischen Aufbau wesentlich ist die Interaktion zwischen der Protagonistin und den Instrumentalgruppen. Das Blechbläserensemble verwandelt sich vor allem in der erste Szene in eine handelnde Figur, quasi einen Doppelgänger, eine innere Stimme der Clorinda. Die Solo-Viola hat hingegen die Aufgabe, das Bild Tancredis wachzurufen, das von der Frau immer wieder erfleht, bekämpft und ersehnt wird. Die Identität von Stimme und Instrumenten wird von Ronchetti durch spezifische Kompositionstechniken umgesetzt: Wie in einem wirklichen „Theater der Instrumente“ sind die Interpreten aufgefordert, das Potential ihrer jeweiligen Instrumente so weit wie möglich zu auszunutzen. Oft werden die Instrumente „vokalisiert“ (die Blechbläser singen buchstäblich in ihre Instrumente), während die Stimme ihrerseits „instrumentalisiert“ wird (im letzten Teil des Stückes schreibt die Komponistin für Clorinda die Technik des Beatboxing vor).
Mit der Wiederbelebung und der literarisch-musikalischen Transformation eines Librettos aus dem 18. Jahrhundert und mit ihrer überaus präsenten Thematik bemüht sich die Oper Rivale deutlich um Aktualität. Dabei legt sie eine vielschichtige harmonische Reise durch die Jahrhunderte und Gattungen zurück und dringt dabei in musikalische Territorien vor, die von Perotin bis zu Led Zeppelin reichen. Ebenso wesentlich für die Oper ist die Verwendung von Zitaten. Dieses Verfahren gerät jedoch niemals zum Selbstzweck oder zur reinen Mimesis der Handlung (wie in den kriegerischen Klängen, die Annibale Padovano [1527–1570] in seiner „Aria della battaglia“ verwendet hatte), sondern wird zur Geste, die mit neuen klanglichen Formen und Kontexten den tieferen Sinn von Clorindas Tragödie kommentiert. Die Interpretation der Vergangenheit wird hier zur direkten Konsequenz aus den neuen Notwendigkeiten des Lebens, der Musik und der Dramaturgie, so wie es im Abschied der Protagonistin heißt: „Vivez … c’est un effort que j’exige de vous … N’oubliez jamais“ („Lebt“ … Diese Anstrengung verlange ich von euch … Vergesst niemals“).
Vincenzina C. Ottomano
(aus [t]akte 2/2017)