Eine wissenschaftlich-kritische Ausgabe von Gabriel Faurés Requiem ist ein editorisches Abenteuer, da der Komponist nach der Uraufführung der „kleinen“ Fassung von 1888 das Werk mehrmals erweiterte. Die Edition in der neuen Fauré-Gesamtausgabe bietet eine schlüssige Lösung.
Nicht nur in Deutschland ist das Requiem op. 48 zweifellos das populärste und meistgespielte Werk von Gabriel Fauré (1845–1924). In der Konzentration seiner Besetzung, in seiner Aufführungsdauer von 35 bis 40 Minuten und in dem verhältnismäßig leichten Zugriff auch für semiprofessionelle Chöre gehört es seit Jahrzehnten zum Kern-Repertoire der Kirchenmusik – sei es in der „großen“ Fassung von 1900/1901, die bis Anfang der 1990er Jahre die einzig bekannte war, sei es in der „kleinen“ Fassung von 1893. Man sollte meinen, dass ein so berühmtes Werk längst in einer gültigen Edition vorliegt, doch weit gefehlt: Die Ausgabe, die nun im Rahmen der Œuvres Complètes de Gabriel Fauré erscheint, ist tatsächlich die erste, die alle bekannten und verfügbaren Quellen ausgewertet hat, und die zu einigen neuen, überraschenden Lesarten kommt.
Um die Probleme zu verstehen, mit denen sich die Herausgeber konfrontiert sahen, muss man kurz die Entstehungs- und Aufführungsgeschichte des Werks skizzieren. Fauré hatte die Originalfassung seines Requiems während seiner Zeit an der Pariser Église de la Sainte Madeleine komponiert, wo es am 16. Januar 1888 uraufgeführt wurde – ohne „Offertoire“ und „Libera me“ und ohne Bläser. In den folgenden Jahren wurde das Werk immer wieder gespielt, teils in der Kirche (und im liturgischen Kontext einer Totenmesse), teils aber auch im Konzertsaal; und für fast jede dieser Aufführungen hat Fauré Umfang und Besetzung ergänzt und erweitert, wobei er die neuen Stimmen mit Bleistift oder Tinte in das ursprüngliche, allerdings nur teilweise erhaltene Manuskript („Introît et Kyrie“, „Sanctus“, „Agnus Dei“ und „In paradisum“) einfügte, das der Ausgabe der Œuvres Complètes als vollständiges Faksimile beigefügt wird. Schließlich lag 1893 eine „kleine“ Fassung (ohne Holzbläser und – von einem Solo im „Sanctus“ abgesehen – ohne Violinen) vor, die 1994 von Jean-Michel Nectoux und Roger Delage rekonstruiert und ediert wurde. Das Requiem erfreute sich damals allerdings bereits einer solchen Beliebtheit, dass Faurés Verleger Julien Hamelle den Komponisten beständig drängte, er möge doch eine normal besetzte, „große“ Fassung erstellen. Fauré hatte offenbar keine besondere Lust, sich dieser Aufgabe zu widmen, gab aber am Ende doch Hamelles Bitte nach: Im Februar 1900 erschien der (von Faurés Schüler Roger Ducasse eingerichtete) Klavierauszug im Druck, im September 1901 folgten die Partitur und die gedruckten Stimmen.
Zu dieser „großen“ Fassung existieren allerdings weder eine Stichvorlage noch Fahnenabzüge, abgesehen von einigen handschriftlichen Korrekturen Faurés in einem Exemplar des gedruckten Klavierauszugs. Und sie stimmt durchaus nicht immer mit jenen Partien überein, die Fauré in seinem Originalmanuskript nachgetragen hatte; die Bläserstimmen zum Beispiel weichen teilweise so sehr von denen ab, die Fauré im Manuskript der „kleinen“ Fassung ergänzt hat, dass diese im Anhang der Neuausgabe separat wiedergegeben werden. Man darf sich sogar fragen, ob die endgültige Orchestration wirklich vom Komponisten selbst stammt, oder ob sie nicht nach seinen Anweisungen in großen Teilen von Roger Ducasse oder einem anderen seiner Schüler redigiert wurde? Jedenfalls sind weder die handschriftliche Partitur noch handschriftliche Stimmen erhalten, auch wenn es sie gegeben haben muss; vermutlich wurden sie vom Verlag als Aufführungs- und Leihmaterial benutzt, bis sie irgendwann so verschlissen waren, dass man sie einfach fortwarf …
So gingen die Herausgeber zunächst einmal von der gedruckten Orchesterpartitur als Primärquelle aus, bis ein Detailvergleich mit den gleichzeitig im Druck erschienenen Stimmen (den bisher offenbar noch keine Neuausgabe des Werkes unternommen hatte) diese Gewichtung nachdrücklich in Frage stellte: Tatsächlich ergab dieser Vergleich so viele Abweichungen zwischen Partitur und Stimmen – bis hin zu in der Partitur fehlenden Noten! –, dass schließlich beide Erstausgaben, Partitur und Stimmen, als gleichberechtigte Primärquellen bewertet werden mussten.
Am Ende dieses „Editionskrimis“ steht nun eine Ausgabe des Requiems, die zwar nicht den Anspruch einer Lesart „letzter Hand“ erfüllen kann, aber doch eine in vielen Details neue und schlüssige Fassung des Werkes bietet.
Christina M. Stahl / Michael Stegemann