Die frühchristliche Konfrontation von Kaiser Decius und dem Heiligen Minias ist der Stoff zu Salvatore Sciarrinos neuem Musiktheaterwerk.
Die „Passionis fragmenta“ von Salvatore Sciarrino wurde zur Feier des 1000-jährigen Bestehens der Abtei San Miniato al Monte in Florenz komponiert. Sie ist ein Miniaturoratorium für Solostimme, das dem Heiligen Minias gewidmet ist. Er wurde um das Jahr 250 gefoltert und enthauptet, weil er sich geweigert hatte, die heidnischen Götter des Kaisers Decius anzubeten. Der Legende nach hob er anschließend seinen Kopf auf, durchquerte den Fluss Arno und bestieg den Mons Florentinus, auf welchem im Jahr 1018 die Basilika San Miniato al Monte errichtet wurde.
Sciarrino hat den lateinischen Text der „Passio sancti Miniatis martyris“ verwendet und verwandelte die Passionserzählung in einen dramatischen Dialog zwischen dem Heiligen und dem Kaiser. Wie bereits in seinem Musiktheaterwerk „Lohengrin“ verteilte Sciarrino auch hier den vorwiegend syllabischen Dialog auf die beiden äußeren Register einer einzigen Sopranstimme. Im hohen Register singt Decius starre Melodiebruchstücke, die den wirren und blutrünstigen Folterer treffend beschreiben. Die Partie des Minias bewegt sich in der Tiefe, mit einer natürlichen Bruststimme außerhalb des Registers. Unterbrochen werden beide immer wieder von dem Erzähler Nuncius, der von den ungeheuerlichen Taten berichtet.
Die kontrastierenden Dialoge führten zu den typischen Formen eines Oratoriums: Arien, Rezitativen und Duetten, die von einem Concertino aus vier „Solo”-Instrumenten (Flöte, Viola, Violoncello und Orgel) und von einem Ripieno aus Violinen und Kontrabässen begleitet werden. Die Flöte spielt oft im Duett mit Decius in der Höhe, die Solostreicher bewegen sich im mittleren und tiefen Register und begleiten häufiger die Partie des Heiligen, die Orgel erscheint hin und wieder mit dynamischen Einwürfen, während das Ripieno der Violinen Stimmungen und Hintergrundklänge erzeugt. Zumeist korrespondieren die Instrumente eng mit den expressiven Schlüsselstellen des Gesangs.
In den Duetten treffen die beiden vokalen Personifikationen aufeinander: auf der einen Seite das hysterische Drängen des Decius, durchsetzt von schrillen Klängen, vereinzelten Flageoletts der Flöte und Obertonglissandi des Violoncellos, auf der anderen Seite die unerschütterlich gleichmütigen Antworten des Minias (der die Foltern als „leichte Daunen auf dem Wasser” beschreibt), mit Echos aus warmen Violaklängen.
Die beiden Arien basieren auf kurzen Texten und sind entsprechend dem Charakter der beiden Figuren gestaltet. Decius äußert sich mit drohenden und ernsten Aufforderungen („Sacrifica diis!”, „Opfere den Göttern!”) wohingegen die große Arie des Minias aus kurzen, ruhigen und kantablen Phrasen besteht. Die Rezitative des Nuncius sind von konzentrierten Beschreibungen der Foltern geprägt, wie zum Beispiel dem Scheiterhaufen, begleitet von der frenetischen Wiederholung der Worte „ignis” (Feuer) und grellen Multiphonics der Flöte und den Dornen, die unter die Fingernägel getrieben werden, kombiniert mit schneidenden Flageolettklängen. Die anderen Torturen zählt der Kaiser in „Furie concertate“ auf, dem Gipfel seiner sadistischen Wut: Er versucht, Minias mit wertvollen Objekten zu bestechen, er befiehlt, ihn von einem Raubtier zerfleischen zu lassen, er droht wütend, ihm die Ohren zu durchstechen und diese mit geschmolzenem Blei aufzufüllen, „damit er nicht vernehme, wenn sein Gott ihn ruft”. Hier, am dramatischen Höhepunkt des Oratoriums, wiederholt Decius aufgeregt und schnell einzelne Wörter wie gebieterische und hysterische Befehle und wird dabei durch heftige Glissandi und Cluster von der Orgel betont. Diese Linie wird immer drängender, steigt auf bis zur Schlusskadenz, wo sie ohne Begleitung in einem extrem hohen Register verbleibt („Dies ist der extreme Teil seiner Raserei, hier ist Decius wie eine Königin der Nacht“).
Vor dem kurzen Schlussrezitativ fügt Sciarrino das instrumentale „Notturno dal carcere“ (Nachtstück aus dem Kerker) neu ein. Er erschafft damit einen Moment des Innehaltens, in dem der Heilige die Kapitalstrafe erwartet. Dazu erklingt eine geheimnisvolle Musik aus Naturstimmen: Rauscheffekte der Streicher, „Brüllen“ der Flöte und luftige Multiphonics, die an die Laute nachtaktiver Tiere erinnern.
Gianluigi Mattietti
(aus [t]akte 2 / 2018 – Übersetzung Christine Anderson)