Sich-Nähern und Sich-Entfernen, Ausdehnen und Verkleinern, Verdichten und Ausdünnen, Steigen und Sinken: Die jüngsten Stücke von Miroslav Srnka setzen exakte Beobachtungen von Phänomenen in Musik um, überraschende Experimente und klangliche Auslotungen inbegriffen.
Ein radikales Neudenken von musikalischen Energieverläufen vollzieht Miroslav Srnka in mehreren seiner kammermusikalischen Werke der letzten Jahre. In einem potenziell verschmelzenden Klangapparat aus Saiteninstrumenten offenbaren Werke wie Tree of Heaven für Violine, Viola und Violoncello (2010), das Streichquartett Engrams (2011) und zuvor schon das Klavierquintett Pouhou vlnou (Qu’une vague) (2008) Stationen eines Komponierens, das Bewegungsverläufe zum Thema macht. Wie Naturereignisse werden Phänomene zur Beobachtung freigegeben: das Sich-Nähern und Sich-Entfernen, Ausdehnen und Verkleinern, Verdichten und Ausdünnen, Steigen und Sinken. In Hejna („Schwärme“) für Klarinette, Akkordeon, Klavier, Harfe und Schlagzeug (2010) wird ein solches Phänomen titelgebend: Die Musik pulsiert wie Energieflüsse in beweglichen Kollektiven, in Vogel- oder Fischschwärmen. Resultate sind spannungsreiche musikalische Verläufe, sie ziehen mit harmonischen Experimenten wie dem Kombinieren von einer chromatischen und einer natürlichen Mikrointervallik in den Bann, sie halten Überraschungsmomente, Höhepunkte bereit. Die Summe dieses Komponierens wurde in der Kammeroper Make No Noise (München 2011) und in seinem musikalischen Comic Jakub Flügelbunt (2011) in einen dramatischen Kontext eingebunden.
Einen nächster Schritt in der Befreiung der Musik von klassischen Parametern geht Srnka nun in seinem neuen Werk für das Münchner Kammerorchester mit einem Komponieren, das die Tiefendimension des Klanglichen auslotet. Wiederum ein Stück für Streichinstrumente, die, von der Einstimmigkeit bis zur kompletten Aufteilung der Stimmen, Kurven, Knoten, Punkte in einem Verlauf vollziehen, der durch einen mehrdimensionalen Raum saust. Das Kompositionsprinzip gleicht einem mehrfachen Projizieren in verschiedene Ebenen der Wahrnehmung. Die Musik wird über einem abstrakten Bewegungsnetz in verschiedenen Filtern dynamisiert, als würde der Klang vom Beobachter in räumlicher Bewegung wahrgenommen: kommend, gehend, sich nähernd, sich entfernend. Oder, anderes herum gedacht: Hier wird ein klingendes Ereignis in Bewegung versetzt, als würde ein Filmausschnitt beschleunigt, verlangsamt, vorwärts, rückwärts abgespielt, eingefroren.
Srnka schreibt mit einem solchen Komponieren die Erfahrungen aus dem letzten Streichquartett mit seinen Skalen, Kurven und harmonischen Experimenten fort. Das Ergebnis dieser Fortschreibung verheißt ein faszinierendes Zeiterlebnis im klingenden Raum.
Marie Luise Maintz
(aus [t]akte 1/2012)