Viel gespielt, doch kaum einmal auf dem neuesten Stand der Quellenkenntnis. Debussys Tondichtung „La Mer“ hatte eine Auffrischung des Notentextes nötig. In der neuen Edition von Douglas Woodfull- Harris wird dies eingelöst.
Claude Debussys symphonische Skizzen La Mer – heute neben Prélude à l’après-midi d’un faune wohl das meistgespielte Orchesterwerk aus seiner Feder – ließen das Publikum bei der Uraufführung im Jahre 1905 ratlos zurück: „Die einen finden das Meer nicht wieder, die anderen die Musik“, so fasste Paul Dukas die Vorbehalte zusammen; man sah sich in seinen Erwartungen getäuscht, denn La Mer bietet weder illustrativ gefällige Tonmalerei, noch knüpft es an die Klangsprache der damals schon beliebten Werke des Komponisten an. Die drei Sätze mit ihren Titeln „De l’aube à midi sur la mer“, „Jeux de vagues“ und „Dialogue du vent et de la mer“ entziehen sich allen geläufigen Analyseansätzen; sie sind, wie ein amerikanischer Rezensent 1907 konstatierte, „so wenig greifbar und zugleich kapriziös wie das Meer selbst“. Das Meer und seine Unfasslichkeit bildeten für Debussy, der die See liebte und einst hatte Seemann werden wollen, gleichsam einen Kristallisationspunkt abstrakter Fantasie, die sich in La Mer in bis dahin ungehörten, farbig-changierenden Klängen und ungewöhnlichen Formen ihre Bahn bricht. Erst als Debussy sein Werk Anfang 1908 in Paris selbst dirigierte, setzte der bis heute anhaltende Erfolg von La Mer ein.
Mit Erscheinen der Erstausgabe im Jahre 1905 war die Komposition keineswegs abgeschlossen: Dass die Musik in Bewegung blieb, zeigt nicht nur die berühmte Fanfare im dritten Satz, Takt 237ff., die man 1910 offenbar ohne Gegenwehr des Komponisten in der Neuauflage eliminiert hatte, die aber in der Aufführungspraxis durch Dirigenten wie Pierre Monteux, Charles Münch, Dimitris Mitropoulos und Ernest Ansermet stets präsent blieb. Es war vor allem Debussy selbst, der noch bis 1913 weiter an seinem Werk feilte, wie zwei der Musikforschung bislang unbekannte Quellen aus Privatbesitz mit umfangreichen autographen Einträgen, darunter eine Studienpartitur, die Debussy später seiner Frau schenkte, belegen. Die von Douglas Woodfull-Harris vorgelegte wissenschaftlich-kritische Ausgabe wertet diese Quellen nun erstmals in vollem Umfang aus und zieht darüber hinaus eine Vielzahl weiterer wichtiger Quellen heran, deren Lesarten bisher ebenfalls zum Teil unberücksichtigt blieben. Damit liegt nun der musikalischen Öffentlichkeit eine Edition vor, die sich an Debussys Änderungen „letzter Hand“ orientiert und mit zahlreichen Neuerungen nicht nur im Detail aufwartet, wie am Beispiel der Bläserstimmen im
1. Satz, Takt 23–30, exemplarisch aufgezeigt sei (s. u).
Zugleich trägt die Ausgabe auch der Aufführungstradition Rechnung, indem die Fanfare, in der Partitur und den Stimmen deutlich durch Kleinstich und eckige Klammern gekennzeichnet, wieder Einzug in den dritten Satz hält; ihre wohl mit dem Problem klanglicher Ausgewogenheit in Zusammenhang stehende, besondere Geschichte wird zudem ausführlich im Vorwort zur Partitur diskutiert.
Der „frische Wind“, den die neue Bärenreiter Urtext-Ausgabe entfacht, tut einem oft gehörten Werk wie diesem nur allzu gut.
Gudula Schütz
(aus [t]akte 2/2014)