Beat Furrers Liedzyklus „Canti della tenebra“ nach Dino Campana wird beim Ultima Festival Oslo uraufgeführt. Für die Junge Deutsche Philharmonie entstand strane costellazioni, ein neues Werk für großes Orchester, das im September in der Alten Oper Frankfurt uraufgeführt wird.
Canti della tenebra
Von „ruhelosen Geistern“ ist in Dino Campanas Gedicht „Il canto della tenebra“ (Der Gesang der Finsternis) die Rede – von solchen Geistern, denen nur die Dunkelheit Gnade gewährt, wenn sich die Farben des Tages verloren haben. Unschwer finden sich Synonyme für die eigene Existenz: Dino Campana, 1885 geboren, wirkte im Umkreis des italienischen Futurismus. Er ist der Dichter der Unruhe, den es durch ganz Europa und bis nach Argentinien trieb. Sein Leben spannte sich auf zwischen dem Eingesperrtsein in Gefängnissen und Irrenhäusern von Jugend an einerseits und einer geistigen Freiheit andererseits, die er selbstbewusst in die Musikalität, Klarheit und Farbenfülle seiner Texte umschmolz. In seinen Canti della tenebra komponiert Beat Furrer fünf von Campanas hochpoetischen Texten aus jenem Buch, das den Dichter 1914 schlagartig bekannt machte. Seine Canti orfici sind das Dokument einer Lebensreise, die nach vierzehn Jahren in der Irrenanstalt von Castel Pulci bei Florenz 1932 endete. Für Beat Furrer ist Campana „der Archetypus eines Künstlerschicksals im frühen 20. Jahrhundert und eines Pathos des sich Verschwendens an die Welt, das sofort von der Gesellschaft durch verschiedenste Maßnahmen der Resozialisierung im Irrenhaus oder Gefängnis beantwortet wird. Dino Campana hat vielleicht als erster zum Ausdruck gebracht, dass es keine Flucht gibt, dass kein utopisches Amerika mehr existiert. Seine Reise ist nicht mehr eine Winterreise in ein fremdes zauberhaftes Land. Vielmehr liegt das Geheimnis in ganz alltäglichen Phänomenen, im Wind, den er beschreibt, im Wasser …“
Die Texte münden in die orphische Versenkung, die Campana in seinem vielleicht berühmtesten Gedicht „La Chimera“ beschreibt: in das Lächeln einer bleichen Schönheit, das „aus unbekannten Fernen“ aufscheint. Beat Furrers Liedkompositionen sind als Zyklus konzipiert, als die Erzählung einer Reise zu sich selbst. Sie nehmen ihren Ausgang in einem flüchtigen Nachtbild am Fluss in „Sul torrente notturno“ und beschreiben in „Viaggio a Montevideo“ eine reale Schiffsreise mit pendelnden Akkorden. Im Zentrum steht die nächtliche Landschaft des „Canto della tenebra“, gefolgt von dem schwebenden Geschwindigkeitsrausch der „Corsa infrenabile“, einer Zugreise durch die argentinische Pampa, die einem Akt der Befreiung gleichkommt. In „La Chimera“ schließlich besingt Campana dieses rätselhafte Außen, das Fremde, bei Beat Furrer in einer diatonischen absteigenden Melodie, die unendlich immer weiter zu sinken scheint.
Die Entdeckung der Relativität
Die Uraufführung seines neuen Werks strane costellazioni für großes Orchester durch die Junge Deutsche Philharmonie in Frankfurt ist eingebunden in das Festival der Alten Oper zu Stravinskys Le sacre du printemps, dessen skandalumwitterte Uraufführung sich zum 100. Mal jährt. Im Zusammenhang mit dem Jahrhundertwerk ist für Beat Furrer der Kubismus ein wesentlicher Schlüssel. „Die Entdeckung der Relativität, der Bewegung und der Zeit führen zur Polyfokussierung eines kubistischen Bildes. Es gibt nicht mehr einen Fluchtpunkt, sondern viele. Das ist etwas, das mich zu der Form des Orchesterstücks strane costellazioni für die Junge Deutsche Philharmonie inspiriert hat, zu einer für mich neuen Art von Montagetechnik. Diese vollzieht in der Art eines Kaleidoskops kleingliedrige Montagen aus ineinandergeschnittenen Strukturen, die stark kontrastierende Bewegungsformen darstellen können.“
Mit solchen Montagen beschäftigt sich Furrer seit der Studie für Klavier 2011, in der er die Technik in ihrer Urform und dann in dem Chorstück Enigma V und in linea dell’orizzonte für Ensemble 2012 weiter entwickelt hat. Der Komponist erläutert sein Vorgehen: „Mich interessiert die Perspektive auf sehr unterschiedliche Schichten der Prozesshaftigkeit, dass diese Schichten sowohl überlagert als auch ineinandergeschnitten sind. In der Komposition für Orchester wird all dies viel komplexer, weil es mir die Möglichkeit gibt, das Orchester in all dem klanglichen Reichtum vom Tutti bis zum Solistischen in den Griff zu bekommen. Ich empfinde immer wieder das Orchestertutti als eine besondere Herausforderung: zu verhindern, dass alles zur grauen Masse verschmilzt. Dem begegne ich durch diese für mich neue Form der Schnitttechnik, indem ich das Nebeneinander von solistischen und Tuttiklängen anders handhabe. Vor allem interessiert mich das Ineinander von verschiedenen Zeitlichkeiten, von Tempi und Bewegungsabläufen, wie die verschiedenen Geschwindigkeiten von prozesshaften Veränderungen nebeneinander existieren können. Dies erfordert eine große Präzision der Schnitte. Dadurch können auch verschiedene Gesten nebeneinander existieren, es soll nicht alles unter einer gestischen Hüllkurve verschmelzen.“
Marie Luise Maintz
(aus [t]akte 1/2013)