Viele Unstimmigkeiten haben sich über zwei Jahrhunderte durch die Ausgaben von Beethovens C-Dur-Konzert erhalten. Die neue Edition von Jonathan Del Mar beseitigt sie.
Was gilt, wenn Autograph und Erstausgabe voneinander abweichen? Beethovens erstes Klavierkonzert ist ein faszinierendes Beispiel für diese Frage. Das Erstaunliche bestand darin, festzustellen, wie viele wichtige und entscheidende Elemente des Notentextes bis heute vernachlässigt wurden. Weitreichende Änderungen finden sich im Solopart – Überarbeitungen, die Beethoven vor dem Druck der Erstausgabe (die wie üblich nur in Stimmen veröffentlicht wurde) anfertigte, die dann aber entweder ignoriert, übersehen, zurückgehalten oder auch in manchen Fällen unglaubwürdigerweise als willkürliche Änderungen eines eigenwilligen (vermutlich jedoch bemerkenswert einfallsreichen!) Setzers behandelt wurden.
Wir haben Glück, Beethovens Autograph des Opus 15 zu besitzen, da nur wenige Handschriften aus seiner frühen Schaffensperiode erhalten sind. Die drei Autographe der ersten drei Klavierkonzerte stellen hier besondere Ausnahmen dar. Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Wenn sich Autograph und Erstausgabe unterscheiden, welche gilt? Grundsätzlich muss die Antwort lauten, dass dem Autograph zu folgen ist, wenn sich die Unterschiede leicht als Fehler erklären lassen, beispielsweise bei einem fehlenden oder sich offensichtlich zur falschen Note streckenden Legatobogen. Enthält die Erstausgabe jedoch gänzlich abweichendes musikalisches Material, wie es im C-Dur-Konzert der Fall ist, so ist davon auszugehen, dass es sich hierbei um Überarbeitungen Beethovens handelt. Bisher sind jedoch diese Revisionen in mehr als dreißig Fällen – viele als hochinteressant und bedeutungsvoll zu bewerten – in den praktischen Ausgaben unbeachtet geblieben, obwohl sie in der Taschenpartitur der Edition Eulenburg vorhanden sind, die sich direkt auf die Erstausgabe stützt.
Allerdings besteht noch eine weitere Irritation, eine weitere Komplizierung, welche die Entscheidung über Beethovens Schlussfassung an siebzehn verschiedenen Stellen noch schwieriger als ohnehin üblich werden lässt. Der erste Takt ist im Autograph mit p gekennzeichnet, wird jedoch in der Erstausgabe konstant mit pp angegeben. Ausgehend vom zuvor Gesagten kann dies jedoch nicht als Fehler bezeichnet werden, da ausnahmslos alle Stimmen der Erstausgabe von denen des Autographs abweichen, was auf eine Überarbeitung Beethovens hinweist. Dementsprechend ist dem (offensichtlich späteren) pp der Erstausgabe zu folgen, einer ursprünglicheren dynamischen Kennzeichnung des Beginns eines Konzertes. Jedoch – oh Schreck! – was muss man bei genauerer Betrachtung des Autographs feststellen? In jeder Stimme schrieb Beethoven ursprünglich „pp“, was später durchgestrichen und durch „p“ ersetzt wurde. Folgt man der zuvor dargelegten Regel, ist nun anzunehmen, dass Beethoven zunächst „pp“ schrieb, dies anschließend in „p“ änderte, sich schließlich besann und zu „pp“ zurückkehrte. Wäre dies ein Einzelfall, so könnte man in der Tat darauf schließen, dass dies tatsächlich so geschah. Schließlich war Beethoven vollkommen imstande – und dies sogar recht häufig –, zwei oder drei Takte im Autograph durchzustreichen und sie anschließend mit den Worten „bleibt“ oder „gut“ wieder einzusetzen. Allerdings sind im vorliegenden Werk nicht weniger als siebzehn solcher Stellen zu entdecken. Bei einer solchen Anzahl von Überarbeitungen in letzter Minute (oder wohl noch später!) ist nicht länger glaubhaft davon auszugehen, dass Beethoven in dieser späten Phase noch entsprechend unentschieden gewesen wäre, so viele genau durchdachte Revisionen zu widerrufen; und tatsächlich stimmen die neuesten Ausgaben mit dieser Einschätzung überein. Der Notentext, den wir gewohnt sind zu hören, folgt zu Recht Beethovens letzter Fassung im Autograph.
Wir mögen uns fragen, was sich Beethoven dabei gedacht hat, Änderungen an einem Werk erst nach dessen Veröffentlichung vorzunehmen? Wie konnte er davon ausgehen, dass diese Überarbeitungen das Licht der Welt erblicken würden? Es kann gezeigt werden, dass er annahm, dass ihm aber nicht bewusst war, wie weit der Notenstich bereits fortgeschritten war, so dass er hoffte, noch Zeit zu haben.
Beethoven schrieb drei Kadenzen für den ersten Satz: eine kurze, eine lange und eine dritte, von der nur ein Fragment erhalten geblieben ist. Sie haben bisher wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren, so dass eine erhebliche Menge an Korrekturen notwendig war – bis hin zur Anzahl der Noten (!).
Jonathan Del Mar
(Übersetzung: Christoph Rinne)
(aus [t]akte 1/2013)