Für die Geige ein einziger liedhafter Bogen über mehr als 20 Minuten, für das Orchester transparente Klanglichkeit und Farbenmelodie: So beschreibt Matthias Pintscher sein Violinkonzert Mar’eh für Julia Fischer, das im Sommer in Luzern uraufgeführt wird.
„,Mar’eh‘ heißt Antlitz, Zeichen. Das hebräische Wort kann auch die Aura eines Gesichtes meinen, eine schöne Erscheinung, etwas Wunderbares, das plötzlich vor Dir aufscheint.“ Matthias Pintscher komponiert mit Mar’eh ein Violinkonzert für die Geigerin Julia Fischer, die es beim Lucerne Festival mit dem London Philharmonic Orchestra unter Vladimir Jurowski uraufführen wird. „Ich kam auf dieses Wort, als ich an diese feinen Linien dachte, die sie mit ihrem Instrument spinnen kann, dieses ganz intensive, aber leichte Spiel.“ Das „wunderbare Aufscheinen“ ist Metapher für die Klangaura des gesamten Konzerts. Ein immer wieder neues Materialisieren der Klänge aus dem Nichts, dessen Protagonist die Geige ist. „Ich habe versucht, das Ganze sehr liedhaft zu gestalten, so dass die Geige am Beginn ansetzt und eine Linie – oder deren Vision – bis zum Schluss durchzieht, in verschiedensten Lagen, oft ganz hoch, wo sie nur im Flageolett fortgesetzt werden kann. Ich wollte dieses kontinuierliche Abschreiten einer Strecke. In dem Versuch, horizontale Klangbögen zu schaffen, geht es mir darum, dem Klang immer eine perspektivische Ausrichtung zu geben.”
Das Spinnen von Fäden offenbart eine weitere Dimension. Der Partitur stellt Pintscher als Anweisung einen Hinweis auf Luigi Nono voran: „presenze – memorie – colori – respiri“. Immer geht es bei aller Gegenwärtigkeit auch um das Erinnern: Im Aufscheinen schwingt, atmet das Vergangene mit. Das Orchester ist Teil der transparenten Klanglichkeit, antwortet in dem Gestus, den die Geige evoziert und realisiert eine eigene Form von Klangfarbenmelodie. „Es gibt drei Flöten, die durch die spezifischen prismatischen Spieltechniken, die ich mir in meinem Flötenkonzert transir erarbeitet habe, eine herausgehobene Position haben. Sie kommentieren durchweg das Violinspiel, antworten immer kammermusikalisch auf die Geige. Dies streut sich dann weiter in die gebrochene, spektrale Klanglichkeit des Orchesters. Der Satz ist immer leicht, nie kompakt oder heftig, sondern durchsichtig, perspektivisch antwortend auf die feine Zeichnung der Geige in diesem Klangraum.“
Der durchgehende Satz von etwa 22 Minuten Dauer vollzieht Verdichtungen, Kulminationspunkte und versteht Schönbergs Terminus der Klangfarbenmelodie als ein Kontinuum des Klingens: „Mein Wunsch war, diese vielen kleinen Partikel zusammenkommen zu lassen in der Illusion einer großen, leichten, transparenten Masse, die sich von Anfang bis Ende durchzieht. Es geht darum, dass der Klang eine Richtung hat, nicht im melodiösen Sinne, sondern indem der Klang immer weitergeht, nie unterbrochen wird. Es geht um die Ausrichtung von Klang im Raum und in der Zeit.“ Anknüpfend an die minutiöse Violintechnik seines Zyklus’ Study for Treatise on the Veil offenbart Mar’eh eine nach innen gekehrte Virtuosität: „Das Stück ist hoch, schnell, filigran, aber es handelt sich nicht um eine extrovertierte oder exaltierte Virtuosität, sondern um eine der Introspektion, die man vielleicht eine ‚konzentrische Virtuosität’ nennen könnte.“
Marie Luise Maintz
(aus [t]akte 1/2011)