In zwei gewichtigen neuen Kompositionen hat Heinz Winbeck seine Hommage an bedeutende Vorgänger geschaffen: Lebensstürme nach Schubert und Jetzt und in der Stunde des Todes“ in Reminiszenz an Bruckners IX. Sinfonie.
„Lebensstürme“
Lebensstürme ist der vom Verleger gewählte Titel eines Klavierduos aus dem letzten Lebensjahr Schuberts, eines großen Allegrosatzes in a-Moll. In Heinz Winbecks gleichnamiger Komposition wird die stürmische Eröffnungskaskade zitiert und quasi zu einem kleinen Klavierkonzert ausgearbeitet, aber es werden auch eine Reihe anderer schubertscher Themen bis hin zu kleinen anspielungsreichen Wendungen „anverwandelt“. Strukturiert wird die Komposition durch fünf Instrumentationen von eher unbekannten Liedern Schuberts, die einen ganzen Kosmos von Gefühlslagen umfassen. Man erlebt eine Art Erinnerungsreise durch das große Werk Schuberts. Heinz Winbeck: „Zur Komposition von Lebensstürme kam es dadurch, dass der Choreograph Jochen Ulrich meine Winterreise, die er Juni 2007 in St. Florian hörte, unbedingt als musikalische Grundlage für ein großes abendfüllendes Schubert-Tanztheaterprojekt nehmen wollte und dafür einen vorausgehenden Teil benötigte. Meine Winterreise aus dem Jahr 1995 war ursprünglich ein reines Instrumentalstück für 19 Solostreicher gewesen – ich hatte es wohl schreiben müssen, um weitergehen zu können, da meine Bindung an Schubert von Jugend auf stark und diese Referenz als ‚Scheidegruß‘ einfach notwendig, aber für mich keineswegs ein ‚Hinzufügen‘ war. Sieben Lieder aus der Winterreise stellte ich, bearbeitet für dieselbe Besetzung plus einem Horn, erst auf Wunsch von Dennis Russell Davies für jenes Konzert in St. Florian und den Sänger Martin Achrainer voran. Nun wünschte sich Jochen Ulrich eine etwa gleich lange ‚helle‘, dem Leben zugewandte Schubert-Musik als Hinführung zur Winterreise. Ich sagte nach einem gewissen Zögern umso lieber zu, als er mir völlig freie Hand ließ, nur Gesang sollte eben auch präsent sein. Für die Wahl der beiden großformatigen vierhändigen Klavierstücke Lebensstürme und Rondeau brillant D 823 als musikalisches und formales Zentrum war möglicherweise deren gemeinsamer anapästischer Rhythmus ausschlaggebend als Gegensatz zum daktylischen, dem Todesrhythmus bei Schubert, der sich durch die Winterreise zieht – ein Beispiel nicht nur für die „himmlische Länge“, sondern auch für das letztendliche Zusammenfallen von Lebens- und Todesrhythmus. Der pulsierende Rhythmus verbindet die fünf Lieder, die ich als der Winterreise vorangehende und zu ihr hinführende bewusst unter den unbekannteren, aber nicht weniger großartigen ausgewählt habe: ,Im Abendroth‘ – ,Sehnsucht‘ – ,An mein Herz‘ –,Waldesnacht‘ – ,Herbst‘“.
Winbecks Musik zu einem Ballett ist voll raffinierter Licht- und Szenenwechsel: „Ich sah mich eher vor eine handwerklich reizvolle Aufgabe gestellt, eine dieses hervorragende Tanztheaterensemble inspirierende Musik zu schreiben, ohne Schuberts Musik nur als atmosphärische Kulisse oder Steinbruch zu benutzen – wie das häufig genug geschieht – aber auch ohne mit billigen Störmanövern und Brechungen Zeitgenossenschaft zu beweisen. Die Retrospektive, das wehmütige ‚Vorüber‘, die historische Perspektive sollte anders, durch die Komposition selbst hörbar sein. Das Stück beginnt fast a cappella mit einer Fuge, da Schubert noch kurze Zeit vor seinem Tod – also im Umfeld seiner vollendetsten Kompositionen, plötzlich glaubte, das Fugenschreiben noch üben zu müssen! In dem nun einsetzenden Gewebe wird der Schubert-Kenner natürlich noch einiges Bekannte entdecken, aber nicht nach Art eines Potpourris à la ,Dreimäderlhaus‘, sondern mit dem Ziel, in neuer und ziemlich ungewöhnlicher Instrumentierung eine Art Quintessenz der schubertschen Melodik und Harmonik zu destillieren, einen Trunk, der ruhig etwas berauschen darf, bevor der Becher über die gefährlich scharfen Klippen geworfen wird.“
Ein großer Teil der Literatur über Schubert geht von einer „beredten Sprachlosigkeit“ aus, auch aufgrund der emotionalen Berührung durch seine Musik. Auf die Frage, ob die Lebensstürme ähnlich zu verstehen seien, antwortet Winbeck: „Dass ich ihn nicht fassen kann und will, nicht festhalten und dass alles um diese ‚beredte Sprachlosigkeit‘ kreist, versteht sich ohnedies von selbst, und ich bin sicher, dass auch die Bilderfülle, die der Tanz bieten wird, diese als geheimes Zentrum bewahren wird. Dabei habe ich versucht, der dämonischen Seite Schuberts gerecht zu werden, die auch hinter derber Ländlertanzseligkeit versteckt sein kann und letztlich vielleicht nur die Kehrseite der Todessehnsucht darstellt: Eingespanntsein im Lebenskarussell und Abspringenwollen. Dass Schubert viel näher an der Zigeunermusik anzusiedeln ist als am Biedermeier (Adorno), wird vielleicht zu hören sein.“
„Jetzt und in der Stunde des Todes“
„In Bruckners Kopf“ war der Arbeitstitel seiner fast einstündigen Komposition Jetzt und in der Stunde des Todes, in der sich Heinz Winbeck in einer Art musikalischen Nahtod-Erfahrung in Bruckners letzte Lebensmomente hineinversetzte, die durch die Einsicht beherrscht wurden, die monumentale IX. Sinfonie nicht vollenden zu können. Die Drei Fragmente unter Verwendung von Motiven insbesondere des Finales der IX. Sinfonie von Anton Bruckner sind nicht einer der vielen spekulativen Versuche, den grandiosen Torso zu vervollständigen, sondern eine musikalische Paraphrase über Material aus den Skizzen. Ohne wörtlich zu zitieren, ist doch Bruckners Musik stets anwesend. Nur vier Takte erklingen wie von Weitem, „religioso“, „misterioso“, im Originalgewand. „Meine Musik ist einer Traumnovelle ähnlich. Es ist, als ob Partikel der Musik ungeordnet durch den Raum fliegen und wieder zusammenfinden, aber in einer Ordnung, die für mich schon etwas Jenseitiges hat.“ Die drei Fragmente aus dem Geiste Bruckners setzen subtil auch Stilmittel der zeitgenössischen Musik ein, Zwölftonpassagen, Glissandobewegungen, perkussive Geräuschfelder. Wie sinnerfüllte Leerstellen stehen einzelne Glockenschläge am Beginn. Winbeck imaginiert in seiner Komposition „das grenzenlose Jetzt von Bruckners Tod: den Fluss der musikalischen Gedanken, das Bewusstsein des Nichtvollendenkönnens, -dürfens. Im Angesicht der Ewigkeit zerfließen Elemente der musikalischen Existenz zur Fantasmagorie“ (Helmut Rohm). Zitate aus Werken anderer, einschließlich der Götterdämmerung, die bis zuletzt auf Bruckners Flügel stand, verband Bruckner mit einem grandiosen Formentwurf, der ein Gesangs- und Fugenthema zu verschmelzen trachtete und zugleich ein Resümee seines ganzen Schaffens zog: ein „großartiger Entwurf in eine ganz neue Dimension“. Und diesen übergipfelt Winbeck mit der Apotheose einer „Himmelfahrt“, eines „Halleluja“, das gleichsam ein imaginiertes Echo in den Raum wirft.
Marie Luise Maintz
aus [t]akte 1/2011